„Wie gehen Menschen mit ihrer Geschichte um? Wie geht Gesellschaft mit ihrer Geschichte um?“

Historiker und Lehrer Harald Höflein gestaltet Erinnerungsarbeit für kommende Generationen

Toby Axelrod

Als Harald Höflein zum ersten Mal mit Julius Bendorf, einem Holocaust-Überlebenden in Kalifornien, Kontakt aufnahm, hatte er „ein bisschen Angst“.

„Ich dachte: ‚der will von uns vielleicht gar nichts wissen und der hat vielleicht gar keine Lust, jetzt mit irgendwelchen Ober-Ramstädter Schülern und irgendeinen komischen Lehrer da zu reden“, erinnert sich Höflein, der an der Georg-Christoph-Lichtenberg-Schule in Ober-Ramstadt, wo Bendorf aufgewachsen ist, Geschichte und Politik unterrichtet.

Es war im Jahr 2010, als Höflein und seine Schüler*innen einen Brief an Bendorf schrieben und einige Materialien, die sie online und im örtlichen Archiv, wo Höflein auch arbeitet, recherchiert hatten, beifügten. „Innerhalb kürzester Zeit kam ein Brief zurück in gestochen scharfer Handschrift. Und er hat sich sehr gefreut, dass Jugendliche sich Gedanken über ihn machen, dass sie über seine Biografie und seine Familie geforscht haben, und er hat noch Bilder von sich dazugelegt“, sagt Höflein.

„Das war für uns Schüler*innen ein besonderes und sehr bewegendes Erlebnis“, sagt Höfleins ehemalige Schülerin Tara Käsmeier, die heute in Berlin mit Migrant*innen arbeitet. „Aus den Gesprächen mit ihm und seinen Kindern und Enkel*innen blieb mir immer der Satz im Kopf, ‚Begegnung schafft Verständnis‘. Diese Überzeugung begleitet mich bis heute.“

„Herr Höflein hat beharrlich nach unserem Stiefvater [Julius Bendorf] gesucht“, schrieben Margot Shapiro und Antoinette Liewen in ihrem Empfehlungsschreiben für einen Obermayer Award. „Es ist davon überzeugt, dass die Schülerinnen und Schüler eine tiefere Verbindung zur Geschichte bekommen, wenn es eine lebende menschliche Verbindung zu Opfern des Holocaust gibt.“

Für den Historiker und Pädagogen Harald Höflein ist ein Archiv mehr als nur ein Aufbewahrungsort. Es ist ein Schlüssel zu persönlichen Geschichten, die dazu beitragen, eine lebende Gedenkstätte zu erbauen.

Neben seiner Tätigkeit als Lehrer arbeitet er in Teilzeit beim Hessischen Staatsarchiv. Durch ihn haben zahllose Schüler*innen die lokale Geschichte und Augenzeug*innen kennengelernt und dazu beigetragen, Raum für zukünftige Erinnerungsarbeit zu sichern.

Höflein hat viel Freude daran, junge Schüler*innen an sehr alte Dokumente und Objekte heranzuführen. Manchmal führen Dokumente zu „Menschen, die es bald nicht mehr so geben wird, mit denen wir jetzt noch Zeitzeugeninterviews machen können.“ Solche Kontakte machen die Vergangenheit für eine jüngere Generation greifbar. Und sie sind die Hoffnung für die Zukunft, sagt er.

„Grabe wo du stehst“

Harald Höflein, 62, ist in Benzheim geboren, etwa 30 km südlich seiner heutigen Wirkungsstätte. Sein Vater war Soldat im Zweiten Weltkrieg und danach vier Jahre in sowjetischer Kriegsgefangenschaft gewesen, sprach aber wenig über seine Erfahrungen aus dieser Zeit, außer über die Kameradschaft unter den Soldaten. „Aber dann hat er sofort aufgehört, ... ohne dass man an Stellen kommt, die ihn vielleicht verfolgen“, sagt Höflein. „Meine Mutter ist 1930 geboren. [Sie] hat die ganze Nazierziehung durchlaufen, was man leider gemerkt hat, öfter mal.“

Als Junge hatte Höflein „null Ahnung über jüdisches Leben in Benzheim, was es natürlich gegeben hat und was sogar ein relativ großer Teil der Stadtgeschichte war“, wie er später erfuhr. Der Schulunterricht über die NS-Zeit war weit weg von dem, was vor Ort geschah.

Jugendliche brauchen den Raum für eine tatsächliche Beschäftigung mit dem, was Demokratie und Menschenrechte bedeuten... Wenn Geschichte uns heute nichts sagt, dann braucht man sie auch nicht zu unterrichten.
— Harald Höflein

Erst als er 1982 in Darmstadt mit dem Studium begann, wurde ihm klar, „wie verrückt das eigentlich war“. Dort wurde er vom Historiker Helmut Böhme geprägt, der den deutschen Militarismus hinterfragte. Höflein wurde sofort Mitglied der neuen Geschichtswerkstatt Darmstadt, die von Studierenden und wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen der Technischen Hochschule Darmstadt gegründet wurde. Dort erfuhr er, dass Jüdinnen und Juden, Christinnen und Christen 1.000 Jahre lang in Benzheim zusammengelebt hatten, und dass es dort eine große, beeindruckende Synagoge gegeben hatte. 

Die Geschichtswerkstatt war Teil einer wachsenden Bewegung von „Geschichte von unten“, deren Teilnehmer*innen „manchmal ein bisschen abschätzig als Barfußhistoriker“ bezeichnet wurden. Die Philosophie dahinter war, die Geschichte vor Ort zu erkunden. „Aber der Spruch war auch, dass man da graben soll, wo man steht.“ 

Damals, als die jüngere Generation ihre Eltern befragten, hörte man immer noch häufig: „Man hat ja nichts gesehen, man konnte ja nichts wissen.“ Höflein hörte solche Bemerkungen sogar in seiner eigenen Familie. Aber dann gab es Familienfeiern, Geburtstage, erinnert er sich: „als es ein bisschen feuchtfröhlicher wurde, dass dann doch auf einmal meine Tante – da kann ich mich auch ziemlich genau erinnern – erzählte: ‚Ja, als die alte Frau Katz auf den Wagen geworfen wurde und dann abtransportiert wurde, das fand ich damals ganz schrecklich.‘ Da dachte ich: ‚Hat mir nicht diese Tante Erna gerade irgendwie 10 Jahre, 15 Jahre erzählt, sie hätte nichts gesehen und von nichts gewusst?“ 

Je mehr Harald Höflein erfuhr, desto stärker wurde sein Interesse daran, wie Menschen historische Ereignisse erleben. „Wie gehen Menschen mit ihrer Geschichte um? Wie geht Gesellschaft mit ihrer Geschichte um? Das sind genau die Themen, die für mich zentral sind“, sagt er.

Diese Themen haben seine Karriere und das Leben vieler seiner Schüler*innen über die Jahre geprägt.

Das Rohmaterial

Nachdem er sein Studium abgeschlossen hatte, unterrichtete Höflein an verschiedenen Schulen und wechselte dann 2007 an die Georg-Christoph-Lichtenberg-Schule, eine integrierte Gesamtschule in Ober-Ramstadt.

2014 bewarb er sich beim Hessischen Staatsarchiv, nachdem Thomas Lange, ein bahnbrechender Archivpädagoge, ihn inspiriert und dazu ermutigt hatte. 

Neben dem Geschichts- und Politikunterricht an der Schule arbeitet er in Teilzeit beim Archiv als Leitung der Archivpädagogik. Er bringt regelmäßig seine Schüler*innen dorthin; die Akten, Objekte und Zeugenaussagen, die sie dort kennenlernen, werden zum Rohmaterial für Projekte und Aktionen, etwa Engagement dafür, dass Straßennamen aus der Nazizeit geändert werden. Zudem bildet er seine Schüler*innen als Guides aus, d.h. Jugendliche führen Jugendliche.

Sein Ziel ist, seine Schüler*innen in die Lage zu versetzen, „sich mit relevanten Themen der Erinnerungskultur heute auseinandersetzen.“

Er hat außerdem in seiner Schuler eine AG zur Erinnerungskultur gegründet. 

Harald Höflein und seine Schüler*innen haben u.a. folgende Projekte durchgeführt:

  • Verlegung von Stolpersteinen und Konzeption von dazugehörigen Führungen, die von Jugendlichen geleitet werden

  • Kontaktaufnahme und Begegnungen mit Holocaust-Überlebenden und deren Nachkommen

  • Mitgestaltung des jährlichen Holocaust-Gedenktags in Ober-Ramstadt

  • Eigene Beträge zu diversen Ausstellungen und Ausstellungsbegleitung durch Schüler*innenguides

  • Ausrichtung eines jährlichen Gedenktags für Georg Elser, der den ersten bekannten Attentatsversuch auf Hitler unternahm

  • Mulitplikatorenfortbildung beim Archiv für Jugendliche und Lehrkräfte zu Wehrmachtverbrechen in Griechenland, mit einer Vorführung des Films Der Balkon zu diesem Thema

  • Eigene Beiträge zu dem Projekt „Streitsache Straßennamen“ in Darmstadt

  • Initiierung eines Graffiti-Wandgemäldes im öffentlichen Raum zu Biographien der Überlebenden Julius Bendorf und Trudy Isenberg

Verschiedene Perspektiven auf die Geschichte einzubeziehen ist entscheidend, sagt Höflein. Kürzlich haben sich seine Schüler*innen mit dem 80. Jahrestag der Bombardierung Darmstadts durch die Alliierten 1944 beschäftigt. Aufbauend auf den Erinnerungen von Menschen vor Ort und eines ehemaligen Zwangsarbeiters haben sie ein differenziertes Bild davon gezeichnet. Obwohl die Menschen, die die Bombardierungen durchlebten, traumatisiert wurden, darf man den Kontext nicht außen vor lassen, sagt er: Deutschland hat vom ersten Tag des Zweiten Weltkriegs an die polnische Zivilbevölkerung bombardiert. Und als Darmstadt bombardiert wurde, „haben schon über 3000 Darmstädter gefehlt, die deportiert wurden in die Lager.“

Ein fortlaufendes Projekt ist ein jährlicher Workshop zu Georg Elser, als Beispiel des Widerstands gegen Hitler. Höflein benutzt die Geschichte des erstenAttentatsversuchs auf Hitler als Ausgangspunkt für Archivrecherchen über den Widerstand in Darmstadt. Und die Archivquellen entfalten eine starke Wirkung. „Wir haben fast 900 Akten mit ganz unterschiedlichen Menschen“, sagt er — beispielsweise Menschen, die verhaftet wurden, weil sie das Nazi-Regime kritisierten oder Witze über Hitler erzählten. In den Akten finden sich Briefe, Passfotos, sogar Abschiedsbriefe von inhaftierten Menschen, die sich aus Verzweiflung das Leben nahmen. „Das ist so ein toller Schatz an Klugheit“ für die Schüler*innen, sagt er.  

Sie entwarfen eine Ausstellung zu Elser und auch zu den Menschen vor Ort, die verhaftet wurden, sagt er.

 „Wenn die Schüler sich mit diesen Akten beschäftigen, sehen sie ganz normale Menschen, ganz einfache Menschen, die sehr kluge Beobachtungen gemacht haben, sehr menschliche Haltungen hatten, die Dinge gesagt haben, die dem Nazi-System nicht gepasst haben und deswegen mit Gefängnis bestraft wurden, mit unterschiedlicher Schwere“, fügt er hinzu. 

„Jugendliche brauchen den Raum für eine tatsächliche Beschäftigung mit dem, was Demokratie und Menschenrechte bedeuten... Wenn Geschichte uns heute nichts sagt, dann braucht man sie auch nicht zu unterrichten.“

Außerordentliches Engagement

„Harald Höflein ist ein Lehrer, der sich zurückhalten, seinen Schülern Raum geben kann“, sagt die Politikerin und Philanthropin Hilde Schramm, die 2019 mit dem Obermayer Award ausgezeichnet wurde.

„Die gemeinsamen Projekte beanspruchen ja nicht nur von ihm als Lehrer und Achivpädagogen viel Zeit, sondern ebenso von den beteiligten Schüler*innen“, sagt Schramm, die – als Tochter von Albert Speer, der ab 1942 Reichsminister für Bewaffnung und Munition war – als Zeitzeugin mit Höfleins Schüler*innen gesprochen hat. „Sein weit über seine Verpflichtungen hinausgehende Engagement ist eine unverzichtbare Voraussetzung für das beachtliche Engagement der Jugendlichen, die offensichttlich gerne mit ihm zusammenarbeiten“, fügt sie hinzu. 

Die Begegnungen mit dem Überlebenden Julius Bendorf und der Familie der Überlebenden Trudy Isenberg (Gertrud Therese, geborene Bendorf) hatten weitreichende Auswirkungen auf die Schüler*innen. 

Leonie Renner, die 2023 das Abitur ablegte, hat beim Holocaust-Gedenktag in Ober-Ramstadt an der Erinnerung an das Leben von Isenberg und Bendorf mitgewirkt. Sie sprach über Zoom mit Ellen Isenberg Hoffman, der Tochter von Trudy Isenberg, und lernte sie im Sommer 2024 persönlich kennen. „2023 besuchte die Familie Ober-Ramstadt, und wir konnten ihnen persönlich ein Graffiti zeigen, das während der Projektwoche entstanden ist“, sagt Renner. 

„Harald, seine Kolleg*innen und seine Schüler*innen enthüllten ein großartiges öffentliches Wandgemälde, das das Leben meiner Mutter ehrte“, sagt Isenberg Hoffman, deren Mutter 2019 starb. „Ich war emotional überwältigt.“

In seinem allerersten Telefongespräch mit Julius Bendorf 2010 erklärte Höflein, dass die Schüler*innen einen Stolperstein vor dem Haus, wo er mit seiner Familie gewohnt hatte, verlegen lassen wollten. „Julius sagte, das findet er eine tolle Idee, und er kommt“, sagt Höflein.

„Drei, vier Tage später klingelte das Telefon. ‚Hallo, sind Sie Herr Höflein? Wir sind die Kinder von Julius Bendorf. Unser Vater erzählt uns, dass er nach Deutschland fliegen will...“ 

Höflein erzählte ihnen von den Stolpersteinen, und sie antworteten: „‚Wir finden das super. Wir kommen alle.‘ Es war sehr bewegend“, erinnert sich Höflein.

Bendorf war kurz nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Dachau nach Ober-Ramstadt zurückgekehrt. Damals, erläuterte er Höflein, „war [er] sehr geschockt, geschockt, weil niemand etwas von ihm wissen wollte, weil sein Haus natürlich im Besitz von irgendwelchen anderen gewesen ist.“

Jahrzehntelang hatte er keinen Fuß mehr in Ober-Ramstadt gesetzt. Auf der Reise 2010 begleiteten ihn mehrere Familienangehörige. Danach kehrte er zweimal wieder nach Ober-Ramstadt zurück, bevor er 2016 mit 101 starb.

„Es hat keinen Zweck, irgendwelche Stolpersteine zu verlegen und dann hinterher praktisch zur Tagesordnung überzugehen. Die Schüler wissen, dass sie diese Steine auch betreuen“, sagt Höflein, der ihnen hilft, den Kontakt zu den Familien aufrechtzuerhalten, „sodass sie wissen, für wen sie das machen.“

— Obermayer Award 2025