Obermayer Award

„Viele Menschen haben nie über diese Geschichte nachgedacht, und jetzt sind sie hier.“

EXIL verwandelt ein ehemaliges Konzentrationslager in einen Ort der Zuflucht und Erinnerung – und Partys.

Toby Axelrod

Eberswalde war in den 1990er Jahren der wilde, wilde Osten.

Wie viele andere Kleinstädte in der ehemaligen DDR war Eberswalde in der ersten Zeit nach der Vereinigung für Ausländer*innen und linke Jugendliche nicht sicher. Neonazis beanspruchten den öffentlichen Raum und waren manchmal gegenüber Menschen, die nicht zu ihrer Weltanschauung passten, brutal. Es gab Morde. Es herrschte Angst.

Hier kamen die Punks von Eberswalde ins Spiel, mit ihren Tattoos und ihrem selbstgefärbten Haar – und ihrem Engagement, dagegen anzukämpfen. Sie sorgten für sichere Räume für Migrant*innen und traten sogar mit der Polizei in Kontakt, um Gewalt durch Neonazis zu verhindern.

Einer dieser Punks, Kai Jahns, ist Mitgründer von EXIL, einem gemeinnützigen Verein, der zwei Hauptziele verfolgt: linke Jugendliche, Migrant*innen und andere Minderheiten zu schützen und sicherzustellen, dass die Geschichte der Naziverbrechen nicht vergessen wird.

„Im Osten nannten wir die 1990er die Jahre der Baseballschläger, weil alles mit diesem Sportgerät gelöst wurde“, sagt Jahns, der 1968 in Eberswalde geboren ist. Er wuchs in einer Familie auf, die versuchte, politisch nicht aufzufallen. Es war also wahrlich revolutionär, dass er und seine Freund*innen sich gegen die Neonazis einsetzten.

In jenen schwierigen Jahren nach der deutschen Vereinigung verbündeten sie sich mit gleichgesinnten Aktivist*innen. Nach dem Vorbild des Widerstands während des Zweiten Weltkriegs kämpften sie gegen die gewalttätigen Neonazi-Gangs. Sie nannten sich „DIY-Punks“. „Damals bedeutete DIY – do it yourself – die Nazis schlagen. Man konnte nicht mit ihnen reden, weil sie einen einfach schlagen würden. Also musste man sie schlagen“, erinnert sich Jahns. 

Ein unwahrscheinlicher sicherer Ort

Jahns und seine Gruppe Punks besetzten 1997 zwei Barracken eines ehemaligen Außenlagers des Konzentrationslagers Ravensbrück, in denen während des Zweiten Weltkriegs Zwangsarbeiterinnen untergebracht waren. Die Besetzer*innen retteten die Gebäude eines ehemaligen Bahnhofs und der Eisenspalterei vor dem Abriss.

Die Baracken wurden im August 1943 für die Rüstungsfabrik Ardelt Werke errichtet. Zwischen September 1944 und April 1945 wurden rund 1000 Inhaftierte vom Frauen-KZ Ravensbrück im etwa 85 km entfernt gelegenen Fürstenberg mit der Eisenbahn hierher gebracht. Sie mussten unter katastrophalen Bedingungen zwölf Stunden pro Tag arbeiten. Als die Truppen der Alliierten im April 1945 näherkamen, wurden die Frauen gezwungen, das Lager zu räumen. Ende April befreite die sowjetische Armee die Region.

Nach dem Krieg wurden die Baracken von einer Schneiderei für Kinderkleidung genutzt. Nebenan war das zentrale Lager einer Division der sowjetischen Armee.

Ab 1945 war das Gelände in den Händen des sowjetischen Militärs. Nach der deutschen Vereinigung 1990 war es Niemandsland und wurde vom Bundesvermögensamt verwaltet. Es stand leer bis Jahns und seine Gruppe einen Jugend- und Kulturklub in den Baracken gründeten – Gebäude, die wahrscheinlich das einzige verbliebene oberirdische Zeugnis eines KZ-Außenlagers in Brandenburg sind.

EXIL bedeutet mir viel, und nicht nur mir, sondern auch meinen Geschwistern und Freundinnen. Wir kamen als Fremde hierher, und EXIL wurde zu einem Zuhause.
— Mirna Alfadel

Die denkmalgeschützten Baracken sind auch ein Zufluchtsort für Familien von Vertragsarbeiter*innen aus anderen Ländern geworden, denen es gelungen ist, nach dem Mauerfall in Deutschland zu bleiben.

Im Laufe der Zeit haben die jungen Punks es geschafft, die Atmosphäre in Eberswalde zu verändern. Inspiriert wurden sie von Geschichten über den Widerstand gegen die Nazis. Allerdings, sagt Jahns, „hat niemand uns etwas über den jüdischen Widerstand beigebracht.“ Die tatsächliche Geschichte, wie sie sich in Eberswalde und in dem von ihnen besetzten Lager zugetragen hatte, mussten sie selbst lernen. Dieses besondere Umfeld war der Anstoß, nachzuforschen und nachzudenken, sagt er – „darüber nachzudenken, was hier war, wie wir das berühren können, wie wir damit arbeiten können“.

In den frühen 2000er Jahren hat Ewa Czerwiakowski, Autorin mehrerer Bücher über den Holocaust und die deutsch-polnische Geschichte, die Mitglieder von EXIL kennen und schätzen gelernt. „Seit der ersten Begegnung war mir klar, dass es sich um eine Initiative handelt, die bundesweit ihresgleichen sucht: Eine Gruppe von Punkrockern, die zu ihrem Sitz und Veranstaltungsort eine durchaus ungewöhnliche Lokalisierung wählte, sie sich aneignete und bereit war, sich dazu verantwortungsvoll zu äußern“, sagt Czerwiakowski.

Falko Lüdtke, einer der Punks, wurde 2000 getötet, als ein Neonazi ihn vor ein Auto stieß. EXIL machte Druck, um das Verbrechen als politisch motiviert anerkennen zu lassen, und organisierte Unterstützung für die Hinterbliebenen. EXIL initiierte zahlreiche Projekte, um an Lüdtke zu erinnern. Jahns gründete ein Beratungszentrum und ein Archiv und fand Partnerorganisationen für ein Modellkindergartenprojekt in Eberswalde, um Übergriffe auf die Kinder von Migrant*innen zu verhindern.

Im Jahr 2003 gründeten die Mitglieder von EXIL die Bürgerstiftung Barnim Uckermark mit Sitz am Standort der Eisenspalterei.

Im Jahr 2008 überzeugte der Leiter des Rechtsamts der Stadt Eberswalde das Bundesvermögensamt, die Baracken für 1 Euro an den Verein zu verkaufen, sagt Jahns.

Ziel des Vereins EXIL war die Jugendbildung, insbesondere bezüglich der Nazi-Zeit. Zunächst hat der Verein Wanderausstellungen über das KZ Ravensbrück und das Jugendkonzentrationslager Moringen gezeigt. Dann entwickelten die Vereinsmitglieder ihre eigene Dauerausstellung „Wiedersehen mit Eberswalde – Hier gibt es keinen Hass mehr“, die 2011 eröffnet wurde. Sie basiert weitgehend auf den Erzählungen der ehemaligen Zwangsarbeiterinnen Janina Wyrzykowska, Wacława Gałęzowska und Marianna Bogusz.

„Im Gedächtnis der Eberswalder*innen sind der sehr emotionale Kontakt und schließlich die Besuche [dieser] ehemaligen polnischen Zwangsarbeiterinnen“, schreibt Britta Stöwe, Sachgebietsleiterin Kunst und Kultur beim Kulturamt der Stadt Eberswalde, in ihrem als Privatperson verfassten Brief zur Unterstützung der Nominierung von EXIL für einen Obermayer Award. Dass der Staat, dem das Grundstück gehört, sogar bereit war, eine Gedenktafel aufzustellen, ist für sie ein Beleg dafür, dass „der Verein auf dieser Strecke alles richtig gemacht“ habe. EXIL erreiche junge Menschen, „die sonst wohl in ihrem Gedankengut eher nach rechts abgebogen wären“.

Das Atelier des Bildhauers Eckhard Herrmann ist auf der anderen Straßenseite, gegenüber der historischen Stätte. Er gestaltete die Gedenktafel und setzte sie auf ein 500 kg schweres Fundament aus Stahl, „sodass sie nicht zerschlagen werden kann“. Alle vorher aufgestellten Gedenktafeln waren von Neonazis zerstört worden.

Die Dauerausstellung wurde 2022 durch eine virtuelle Tour, die mit finanzieller Unterstützung des Bundes, des Landes Brandenburg und der Amadeu-Antonio-Stiftung realisiert wurde, ersetzt.

Ein Treffpunkt

Heute sind die ehemaligen Baracken auch ein Ort für Freizeitaktivitäten, etwa Koch-, Theater-, Bastel- und Musikworkshops. Die Zielgruppen sind Jugendliche und junge Erwachsene vor Ort, neu angekommene Geflüchtete oder Migrant*innen und auch andere Marginalisierte. Die Hilfe, Unterstützung und Kameradschaft von EXIL hat für zahlreiche Neuankömmlinge einen viel bewirkt.

„Als ich in dieses Land kam, konnte ich die Sprache nicht“, sagt Mirna Alfadel, eine Einwanderin aus dem Nahen Osten. „Hier [bei EXIL] habe ich die Sprache gelernt. Ich habe Freundinnen kennengelernt. EXIL bedeutet mir viel, und nicht nur mir, sondern auch meinen Geschwistern und Freundinnen. Wir waren hier fremd, und EXIL war wie zu Hause für uns.“

EXIL fördert demokratische Werte und aktives Engagement gegen Antisemitismus und Rassismus in Vergangenheit und Gegenwart. Die Mitglieder haben eine Partnerschaft mit Amcha Deutschland, einer 1988 gegründeten Hilfsorganisation für Überlebende des Holocaust, etabliert. Sie sind auch mit Nachkommen von Jüd*innen und Zwangsarbeiter*innen aus der Region und mit anderen unterdrückten Minderheiten, die von den Nazis ins Visier genommen werden, in Kontakt getreten, insbesondere mit Sinti und Roma.

„Das Besondere ist, glaube ich, dass es ein historischer Ort ist, aber kein Museum, sondern dass gelebt wird“, sagt Paula Thormann, die gemeinsam mit Benjamin Carsten EXIL leitet. 



Im Jahr 2019 ist EXIL eine Partnerschaft mit dem Institut für Neue Soziale Plastik eingegangen, um gemeinsam die jüdische Geschichte der Messingwerke von Eberswalde zu rekonstruieren. Bis 1933 war dieser führende Industriestandort in Deutschland Eigentum von Aron Hirsch & Söhne. Das Institut plant einen „Kibbuz-Garten“ bei der Villa Hirsch am historischen Standort der ersten Hachschara-Einrichtung in Deutschland. Ziel der Hachschara-Bewegung war es, Jüd*innen auf die Emigration (Alija) ins damalige Palästina vorzubereiten. Die „Jüdische Kulturwerkstätte Brandenburg“ in einer ehemaligen Produktionshalle zeigt eine partizipatorische Ausstellung zu 100 Jahren jüdischer Migration in Brandenburg.

„Das große Talent von Kai Jahns und seinem Verein EXIL war und ist, im Sinne der Stadt zu denken, Menschen einzubinden, Partnerorganisationen zu finden und andere mit seinen Ideen für die Stadt zu infizieren“, sagt Anna Brausam von der Amadeu-Antonio-Stiftung in ihrem Nominierungsbrief.

Sollte man auf den Gedanken kommen zu vermuten, dass EXIL zu konventionell geworden ist, genügt ein Blick auf das Neujahrskonzert 2024, um sich vom Gegenteil zu überzeugen: gefeaturt werden die Punkbands Obscene Revenge und Organized Chaos.

Ewa Czerwiakowski stellt die rhetorischen Fragen: „Darf man an einem Ort des Leidens Rock spielen, Bier trinken, Partys feiern? Ist das nicht etwa eine Entweihung oder gar Blasphemie?“ Tatsächlich aber hat EXIL den „bestmöglichen Weg des Umgangs mit der Vergangenheit eingeschlagen: erinnern und gedenken, sich aber dabei nicht eine steife Betroffenheit aufzwingen lassen, die den Ort zu einer leblosen Gedenkstätte machen würde.“

Jahns sagt: „Man könnte sagen: man darf keine Party in einem ehemaligen Konzentrationslager veranstalten. Aber es gibt eine Menge Leute, die nie über diese Geschichte nachgedacht haben, und jetzt sind sie hier. Sie müssen darüber nachdenken. Wir geben ihnen die Informationen dazu. Und wir haben hier klare Regeln: keine Nazis, keine Idioten.“

Es gibt heute immer noch Herausforderungen im Umgang mit Neonazis und einer rechtspopulistischen Geisteshaltung in Eberswalde, aber gibt auch eine aktive Zivilgesellschaft, die sich dem entgegenstellt. EXIL hat diese Entwicklung vorangetrieben. Ohne die vielen Jahre Basisarbeit durch EXIL wäre Eberswalde heute eine ganz andere Stadt.

— Obermayer Award 2024

 
 

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