Obermayer Award

Schüler*innen verinnerlichen in eigenständiger Projektarbeit, warum Geschichte wichtig ist.

In einer Region, die von einer starken rechtsextremen Szene geprägt ist, vermitteln die einjährigen Programme des Erich-Zeigner-Haus e.V. Recherchekompetenzen und Zivilcourage. 

Die Geschichte des Holocaust gehört zu den Pflichtthemen an deutschen Schulen, und viele Schüler*innen haben schon Konzentrationslager oder Holocaust-Mahnmale besucht. Aber nur wenige sind Überlebenden begegnet, haben sich intensiv mit dem Schicksal einer lokalen jüdischen Familie während des Krieges befasst oder recherchiert, wie und warum nichtjüdische Deutsche ihren jüdischen Nachbarn bei der Flucht halfen. 

Der Erich-Zeigner-Haus e.V. hat sich zum Ziel gesetzt, das zu ändern. 

Der gemeinnützige Verein wurde 1999 in Leipzig gegründet. Die sächsische Hauptstadt ist vielen Klassikfans wegen des Gewandhausorchesters mit seinem ehemaligen Dirigenten Kurt Masur ein Begriff und hatte vor 1933 die sechstgrößte jüdische Gemeinde in Deutschland, die in Handwerk, Wirtschaft und Kunst prosperierte. Heute ist die Region um Leipzig ein Zentrum rechter Ideologie und neonazistischer Aktivitäten. 

Der Verein ist nach einem Anwalt und Politiker benannt, der vor dem Zweiten Weltkrieg Justizminister und kurzzeitig Ministerpräsident in Sachsen war und nach dem Krieg Oberbürgermeister von Leipzig wurde. Mehrfach wurde er für sein antifaschistisches Engagement verhaftet. Er verhalf unter anderem der jüdischen Familie Leibel zur Flucht aus Nazi-Deutschland.

Organisiert hat Zeigner diese Flucht aus dem Haus heraus, in dem er damals lebte und in dem der Verein heute seine Räume hat. Ein halbes Dutzend Mitarbeitende betreuen neben den Vereinsaktivitäten rund 70 Mitglieder. Für Henry Lewkowitz, Geschäftsführer des Vereins, ist Zeigner mit seinem Leben und Werk ein Vorbild für die jungen Menschen von heute, das ihnen vor Augen führt, was man mit Zivilcourage bewirken kann.

Eines der Kernprojekte des Vereins ist die Arbeit mit Schulen, bislang 13 in Leipzig und der Region. Der Verein begleitet interessierte Jugendliche bei Recherchen zu einzelnen Familien oder Personen, sowohl Holocaust-Opfern als auch „Stillen Helden“ wie Zeigner, die Verfolgten halfen.

Die Schüler*innen arbeiten mit historischen Dokumenten und suchen und interviewen Zeitzeug*innen und andere Personen. Dem Verein ist bewusst, dass es bald keine lebenden Holocaust-Zeitzeug*innen mehr geben wird, und so werden inzwischen auch „Zweitzeug*innen“ eingebunden: direkte Nachfahren, aber auch ehemalige Nachbar*innen oder Zeitzeug*innen im Ausland.

Zum Abschluss der Projektarbeit erstellen die Schüler*innen einen Flyer und sammeln Geldspenden für die Verlegung von Stolpersteinen oder für eine Gedenktafel für „Stille Helden aus dem Leipziger Rettungswiderstand“. Dafür sprechen sie auch Menschen an, die im ehemaligen Haus der recherchierten Person beziehungsweise in der Nachbarschaft leben. Das Projekt läuft jeweils über ein ganzes Jahr. 

„Ich persönlich fand es sehr interessant, dass man sich einfach mit einer Familie speziell beschäftigt hat. Im Geschichtsunterricht geht es um eine Gruppe von Menschen“, sagt Theresa Ahnert, Schülerin an der Neuen Nikolaischule in Leipzig. „Es ist etwas ganz anderes, speziell auf einzelne Schicksale zu fokussieren und etwas über konkrete Menschen zu erfahren.“

Für manche Jugendliche ist der Nationalsozialismus irgendeine Zeit so kurz nach dem Mittelalter.
— Michael Nattke

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Sowohl Ahnert als auch ihre Mitschülerin Anna Eulitz erfuhren von dem Projekt über ihre Geschichtslehrerin Carola Pracht, die eng mit dem Erich-Zeigner-Haus zusammenarbeitet.

„Ohne Frau Pracht wüsste ich nicht, dass es solche Projekte gibt“, sagt Eulitz. Die offene und wortgewandte Schülerin freut sich, an diesem frostigen Wintermorgen in Leipzig von ihren Erfahrungen mit der Projektarbeit berichten zu können. Eulitz erfuhr beim Besuch einer Leipziger Synagoge, dass diese von den Nazis niedergebrannt worden war und auch viele Gläubige bei dem Brand starben. Das so direkt zu hören, „lässt einen nicht kalt“, sagt sie.

Pracht ergänzt, dass das Erich-Zeigner-Haus den Schüler*innen etwas bietet, das sie als Lehrerin nicht leisten kann: „Die Zeit ist gar nicht da im Unterricht. Ich bin an einen Lehrplan gebunden und habe wenig Zeit, nebenbei noch Forschungsarbeit [mit den Schüler*innen] zu leisten.“

Die Schülerprojekte haben schon ganz erstaunliche Ergebnisse geliefert. So spürten Schüler*innen im Jahr 2015 Angehörige einer Familie auf, die vor dem Krieg im Pelzhandel tätig gewesen war. Im Zuge des Projekts fanden sie heraus, dass Nachkommen der Familie in Israel und New York lebten – und die Familienzweige gar nichts voneinander ahnten.

„Erst durch dieses Forschungsprojekt mit den Schüler*innen war es möglich, beide Teile der Familie 2016 zusammenzuführen“, sagt Lewkowitz. Sie trafen sich anlässlich einer Feierstunde zur Verlegung von 14 Stolpersteinen in Leipzig.

Bei allem Erfolg sieht sich der Verein auch immer wieder mit großen Herausforderungen konfrontiert.

Lewkowitz erinnert sich an eine Schülerin einer achten Klasse, die ihrem Vater beim Abendessen von dem Projekt erzählt hatte. Er wollte nicht, dass sie sich damit beschäftigte. Der überzeugte AfD-Anhänger sagte zu seiner Tochter, dass Erinnerung heute nicht mehr wichtig wäre – vor allem nicht mehr an die jüdische Geschichte. Die Schülerin blieb jedoch am Ball und lud ihren Vater sogar zur Gedenkfeier anlässlich der Stolpersteinverlegung ein.

„Und der Vater kam auch“, erzählt Lewkowitz. „Das Selbstbewusstsein, das die Schülerin in dem Jahr entwickelt hat, allein durch die Beschäftigung mit einer konkreten Opferbiografie, und dass sie sich in Diskussion mit ihrem Vater setzt – war ein besonderes Beispiel für einen konkreten Fall, der die Nachhaltigkeit unserer Arbeit zeigt.“

Besonders schwierig wird die Arbeit oft im ländlichen Raum jenseits der Stadt Leipzig. 

Im vergangenen Jahr hielten einige Schüler*innen die Dokumente, die sie auswerten sollten, für Fake-Unterlagen. Also fuhr Lewkowitz mit den Jugendlichen nach Leipzig, um ihnen im Staatsarchiv die Originale zu zeigen. Doch selbst da blieben einige noch dabei und behaupteten gegenüber der Archivarin, dass die Dokumente aus dem Zweiten Weltkrieg von ihr und den Alliierten gefälscht worden wären.  

„Es gab einen fundamentalen Zweifel an der Echtheit der Dokumente und an den Entwicklungen im Holocaust“, erzählt Lewkowitz und fügt hinzu, dass solche revisionistischen Haltungen vor fünf Jahren noch kein Thema waren. Doch der Verein lässt sich davon nicht entmutigen, sondern sagt „Jetzt erst recht!“ und engagiert sich nur umso beharrlicher für seine Projekte zur Bekämpfung von Rechtsextremismus. 

Dabei kommt es durchaus vor, dass neonazistische Jugendliche interessierte Mitschüler*innen einschüchtern und davon abhalten, sich an den Rechercheprojekten zu beteiligen. Sie machen Fotos oder führen eine Liste derjenigen, die sich für das Projekt anmelden. Um dem zu begegnen, erfolgt die Anmeldung dann im Lehrerzimmer, und Projekttreffen werden nicht beworben, sondern finden sozusagen „undercover“ statt, erzählt Lewkowitz. 

Die Gegnerschaft von rechts nimmt durchaus auch bedrohlichere Formen an. In Geithain, einer Stadt mit 6.000 Einwohner*innen rund 50 km südlich von Leipzig, veranstaltete eine Gruppe Neonazis einen Autokorso just zu der Zeit, als die Stolpersteine einer Projektgruppe verlegt wurden. Und „rein zufällig“ wurden diese Stolpersteine in der darauffolgenden Nacht mit Beton übergossen.

Der Verein erhält zudem regelmäßig Hassmails. Eine ist Lewkowitz besonders in Erinnerung geblieben, weil sie extrem „unter die Gürtellinie“ ging: eine Fotocollage mit dem Tor zum Konzentrationslager Auschwitz und dem Text „Für euch Kommunisten werden wir die Tore wieder öffnen“.

Der Verein stößt jedoch nicht nur bei offen neonazistischen Eltern auf Widerstand, sondern auch bei Lehrenden, die nicht an der Aufarbeitung der Geschichte des Zweiten Weltkriegs interessiert oder sogar rechts eingestellt sind. Um rechten Gesinnungen in der Lehrerschaft entgegenzuwirken, entwickelte der Verein in Zusammenarbeit mit der Universität Leipzig ein Weiterbildungsangebot mit Workshops für Lehrende. Diese finden in Schulen, aber auch im Erich-Zeigner-Haus statt.

Neben den Schülerprojekten und der Lehrer- und Erwachsenenbildung veröffentlicht der Verein Broschüren, Flyer und Artikel zu Themen wie Rechtsextremismus-Prävention, Erinnerungskultur und deutsche Geschichte.

Engagement gegen Rechtsextremismus ist eine Sache. Es zu finanzieren eine ganz andere. Der Verein verfügt nicht über eine gesicherte institutionelle Finanzierung durch städtische, Landes- oder Bundesfördermittel und agiert in einem durchaus feindseligen Umfeld: AfD-Politiker bringen nicht nur im Landtag Anfragen bezüglich der Finanzierung des Vereins ein, sondern haben sogar schon dort angerufen, um die Arbeit grundsätzlich in Frage zu stellen. Lewkowitz erzählt, die Dinge seien schon so weit eskaliert, dass er einen Anruf von einem AfD-Politiker erhielt, der verkündete, er werde Finanzmittel für das Erich-Zeigner-Haus so lange blockieren, bis auch Stolpersteine für deutsche Soldaten im Zweiten Weltkrieg verlegt würden.

Vor diesem Hintergrund freuen sich die Mitarbeitenden des Vereins sehr über den Obermayer Award 2021 – über die Würdigung ihrer Arbeit ebenso wie die damit verbundene Chance, mehr Anerkennung und Reichweite zu gewinnen. Sie hoffen, das Profil des Vereins stärken und die Vernetzung mit Gleichgesinnten ausbauen zu können, um das Angebot sowohl qualitativ als auch quantitativ zu verbessern.

 
 

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