Obermayer Award

„Es geht nicht nur um [Fakten]. Der Zauber entsteht, wenn man … mit den Sinnen und Emotionen arbeitet.“

Christoph Maunys kreative Herangehensweise an das Gedenken inspiriert Jung und Alt

Toby Axelrod

Christoph Mauny benutzt die Tools von morgen, um die Vergangenheit zum Leben zu erwecken. Als Bildungsreferent hat er die Bewohner*innen seiner Wahlheimat Gotha inspiriert, mit ihm gemeinsam etwas über die lokale Geschichte des Holocaust und über die ehemals florierende jüdische Gemeinschaft der Stadt zu erfahren.

Das Lernen über die Vergangenheit hat die Menschen dazu angeregt, aktuelle Probleme der Gesellschaft in Angriff zu nehmen.

Mauny und die Menschen, mit denen er arbeitet – Kinder wie Erwachsene – haben buchstäblich ein Schlaglicht auf den Standort der im „Kristallnacht“-Pogrom vom November 1938 zerstörten Gothaer Synagoge geworfen. Sie haben das etwa 15 km von Gotha entfernte ehemalige Konzentrationslager Ohrdruf, das die Menschen vor Ort fast vergessen hatten, wieder ins Bewusstsein gerufen. Und sie haben die Biografien von rund 20.000 ehemaligen Insass*innen aus Fragmenten zusammengesetzt.

In Maunys Worten: es geht um die Schaffung einer „lebendigen Erinnerungskultur“, bei der folgende „Aspekte der Nähe entscheidend [sind]: die lokale Verortung, die individuelle Erfahrung in multiperspektivischer Konstellation, die emotionale Begegnung zwischen Menschen und eine ästhetische Formensprache.“ 

Heute ist Mauny Bildungsreferent bei der Weimarer Mal- und Zeichenschule und arbeitet mit Menschen von zwei bis 102. Ist er selbst Künstler? „Auf keinen Fall“, sagt Mauny, der Philosophie und Rhetorik studierte, bevor er sich der Bildungsarbeit zuwandte. „Ich bin lediglich dafür offen.“

Sein Ziel ist, mit Hilfe von Kunst und High-Tech demokratische Werte zu fördern. „Warum? Weil ich denke, dass wir zur Geschichte allgemein und zu Geschichtsbüchern in der Schule keine richtige Verbindung herstellen. Bis ich auf die ersten konkreten Biografien gestoßen bin, konnte ich keine Verbindung zur Tatsache herstellen, dass sechs Millionen Jüdinnen und Juden in der Shoah gestorben sind. Man kann das nicht aufnehmen; es ist zu abstrakt.“

Natürlich sind Fakten wichtig, „vor allem heutzutage“, betont er. „Aber ich denke, das reicht nicht. Es geht nicht nur um [Fakten]. Der Zauber entsteht, wenn man mit den Künsten arbeitet, mit Ausdruck, mit den Sinnen und Emotionen. Und dann können wir eine Verbindung zu den Informationen herstellen. Zu den Biografien, zu den Menschen.“

Als die Mauer fiel

Mauny kam 1984 in Orlishausen, einem 700-Seelen-Dorf in der Nähe von Weimar, zur Welt. Obwohl er beim Fall der Berliner Mauer erst fünf Jahre alt war, erinnert er sich lebhaft daran, wie sich sein Leben mit der Vereinigung von Ost- und Westdeutschland veränderte. Eines Tages fuhr er auf der Straße Dreirad. Und am nächsten Tag waren Autos da. Dort hatte er sie noch nie gesehen. „Ich werde in Herz und Seele nie den Moment vergessen, als meine Eltern und ich in unserem kleinen Auto auf die Westseite fuhren. Wir waren auf der Autobahn, und alle winkten von einem Auto zum anderen.“

Das waren Tage voller Hoffnung und Freude. Als Jugendlicher wurde er dann allerdings Zeuge eines Anstiegs von Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus in seiner Region und kam zu dem Schluss, dass er etwas tun musste. „Ich konnte nie verstehen, wie es so normal geworden war, dass Nazis mitten in Thüringen ihre Symbole zeigten. Die Atmosphäre war damals aggressiv“, sagt er.

Ich habe einen vollkommen neuen Zugang zur deutschen Erinnerungskultur gewonnen. [Christoph] Mauny hat bei mir bleibenden Eindruck hinterlassen.
— Carolin Borchard, Bildhauerin

Nach seinem Studium in Tübingen kehrte Mauny nach Thüringen zurück. Ab 2015 engagierte er sich ehrenamtlich in der Forschungsabteilung der Stiftung Schloss Friedenstein, die das Erbe von Gotha pflegt. Nach einiger Zeit wurde er aufgefordert, an der Neugestaltung des Bildungsangebots der Stiftung mitzuarbeiten, mit Schwerpunkt Bürger*innenrechte und demokratische Werte. Die Stiftung, die bis dahin noble Themen der Geschichte in den Vordergrund gestellt hatte, war dabei, ihre gesellschaftliche Rolle neu zu durchdenken.

Als Bildungsreferent und stellvertretender Direktor Kommunikation und Bildung für das Museum der Stiftung engagierte sich Mauny für die Schaffung sicherer Orte, an denen Menschen Fragen stellen, lernen und sich für eine bessere Gesellschaft einsetzen konnten.

Kreatives Gedenken

Nach dem Tod seiner Schwester Marie 2018 stürzte sich Mauny in innovative Erinnerungsprojekte für und mit jungen Menschen, mit Schwerpunkt Ohrdruf, Gotha und dem System der Außenlager des KZs Buchenwald. Angesichts des starken Einflusses rechtsradikaler Parteien und Ideen in der Region nahm der bloße Akt des Gedenkens bereits politische Bedeutung an. Es ging nicht alles glatt, aber er machte weiter. 

Im Jahr 2020 kreierte er mit Jugendlichen vor Ort die Installation „Memory Walk – Befrage deinen Ort zu seiner Geschichte“. In zwei Videos interviewten die jungen Menschen Passant*innen über Erinnerungszeichen am Standort der ehemaligen Synagoge und am Bahnhof, wo an die Deportation der letzten Jüd*innen von Gotha erinnert wird.

Die Studierenden Antonia Kühn und Ulrike Schuppener beschreiben das Projekt als „Chance, sich partizipativ mit der jüdisch-deutschen Geschichte [unseres] Heimatortes auseinanderzusetzen, das Gedenken an die jüdische Kultur aufzuarbeiten und in die Öffentlichkeit zu tragen.“ In ihrer Nominierung für einen Obermayer Award schreiben sie, Mauny habe sie inspiriert, „selbst in diesem Bereich aktiv zu werden.“

Im folgenden Jahr initiierte Mauny bei der Stiftung den thematischen Schwerpunkt „jüdisches Leben“. Obwohl seine Familie „nicht jüdisch ist und wir keine Verbindungen oder Familie oder Freundinnen oder Freunde haben, die jüdisch sind, habe ich mich immer für [das Thema] interessiert.“

In Gotha war allgemein bekannt, dass auf dem jetzt unbebauten Grundstück an der heutigen Moßlerstraße einst eine Synagoge stand. 1904 eingeweiht, wurde sie während des vom Staat organisierten „Kristallnacht“-Pogroms im November 1938 entweiht und in Brand gesteckt. Die jüdische Gemeinde, die damals etwa 300 Mitglieder hatte, wurde dann gezwungen, die Beseitigung der Trümmer zu bezahlen.

In den Nachkriegsjahren diente das Grundstück als Spielplatz und als Parkplatz. Schließlich baute man dort Wohnungen und einen Supermarkt. 1988 wurde eine Gedenktafel errichtet, die später in ein umgestaltetes und Ende 2020 eröffnetes Einkaufzentrum integriert wurde.

Mauny und die jungen Leute, mit denen er arbeitete, stellten die Vorstellung in Frage, ein Einkaufszentrum auf dem ehemaligen Standort der Synagoge zu platzieren. Schließlich entschieden sie sich für eine künstlerische Intervention, die Erinnerung, Linguistik und Medienkunst aufgreift. Als Teil der Jüdisch-israelischen Kulturtage Thüringen wurde ihre Video-Sound-Installation „Die Gothaer Synagoge lebt“ in den Abendstunden des 27. bis 31. Oktober 2021 auf die Wände eines Durchgangs zwischen zwei Gebäudeteilen des neuen Einkaufszentrums prozijiert. Die Installation war zeitlich begrenzt, wurde jedoch gefilmt und ist zu einem digitalen Denkmal geworden, das auf YouTube und als Virtual-Reality-Erfahrung auf dem Handy zu erleben ist.

Die Installation schuf ein Bewusstsein für die Synagoge und für jüdisches Leben als Teil der Geschichte Gothas. Sie wurde staatlich gefördert, u.a. durch das Programm „Neun Jahrhunderte jüdisches Leben in Thüringen“. Der Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen, Reinhard Schramm, führte durch die Installation.

Mauny, der diese „urbane Intervention“ leitete, lud zudem alle Schulen vor Ort ein, sich an einem Teil-Projekt „Vokabeln zur jüdischen Kultur“ zu beteiligen. Schüler*innen kreierten Aufkleber mit Wörtern jiddischen oder hebräischen Ursprungs, die den Weg in die deutsche Sprache gefunden haben, u.a. Schmonzes (Unsinn) und Knast (Gefängnis, vom jiddischen Wort für Strafe). Die einzelnen Wörter, mit Erklärungen, wurden auf Aufkleber gedruckt und an die Schulen verteilt. Damit konnte man die Öffentlichkeit informieren oder Hassbotschaften in der Stadt überkleben. Die Wortliste steht auch zum Herunterladen bereit.

„Für mich geht es bei all diesen Aktionen im Grunde darum, Öffentlichkeit zu schaffen und die soziale Relevanz unserer Kulturinstitutionen anzusprechen“, sagt Mauny.



„Am Ende jedes Projektes lobte Christoph die Teilnehmer*innen viele Male, er vermittelt jedem, etwas Wichtiges von etwas ganz Großem zu sein“, sagt Schülerin Viktoria Lang. Lang hat an zahlreichen von Mauny konzipierten Projekten teilgenommen. Er „hat mit seiner Arbeit viele Menschen positiv beeinflusst, darunter auch mich,“ sagt sie. 

Obwohl die Synagogen-Projektion ein großer Erfolg war, erregte sie auch unerwünschte Aufmerksamkeit von Neonazis, sagt Mauny. „Wir haben da sozusagen einen Nerv getroffen. Es gab viele antisemitische Störungen“, von Vandalismus – in den übergroßen Davidstern auf dem Denkmal wurde ein Hakenkreuz geritzt – bis hin zu rassistischer Belästigung von Teilnehmer*innen. Einmal ging ein betrunkener Neonazi „zu einem Polizeiwagen und zeigte den Hitlergruß“, was in Deutschland verboten ist. Er wurde festgenommen.

Von solchen Belästigungen hat sich Mauny nicht beirren lassen. 2021 arbeitete er in Kooperation mit dem Anne Frank Zentrum (Berlin) mit Schüler*innen an einem Interviewprojekt, „Ohr an Ohr mit einem anderen Leben“. Die Jugendlichen sprachen mit älteren Menschen aus der Region über ihre Erinnerungen an jüdische Nachbar*innen in Gotha vor dem Krieg, und es wurde daraus ein Podcast.

„Die Teenager sprachen mit Menschen, die 1945 selbst Kinder waren“, sagt Mauny. „Ich freue mich über die Momente, in denen sie zu den alten Menschen, die sie besuchten, Verbindungen aufbauten.“  

Im April 2023 initiierte Mauny anlässlich des 78. Jahrestags der Befreiung des KZ-Komplexes Ohrdruf ein Bildungsprojekt für die Stiftung Schloss Friedenstein. Ziel des Projekts mit dem Titel „Deutsche Erinnerungslücke KZ Ohrdruf“ ist es, vor Ort ein Bewusstsein für das Lager zu schaffen. Es wurde im November 1944 eingerichtet und war das erste KZ, das von der US Army befreit wurde. Die Stiftung Schloss Friedenstein hat bereits zwei Video-Biografien von Überlebenden auf YouTube veröffentlicht.

Im Laufe der nächsten Jahre werden die Teilnehmer*innen – Jugendliche, Künstler*innen, Zeitzeug*innen und Fachleute – Namen digitalisieren (#everynamecounts), Biografien zusammenstellen und Objekte und Skizzen für ein „unvollendetes Denkmal“ erstellen – das Projekt ist bis zum Jahr 2100 intergenerationell angelegt. Es möchte die Fragen ansprechen, woran wir erinnern möchten und warum, wie wir angemessen gedenken können, und wie wir als Gesellschaft leben wollen.

„Für mich ist es entscheidend, die europäische Dimension und insbesondere die regionale Dichte des KZ-Systems der Nazis, das aus über 1.000 Lagern bestand, zu vermitteln“, sagt Mauny. „Buchenwald war überall.“

Mauny hat Schulen, Jugendklubs und Unternehmen vor Ort eingeladen, am Projekt teilzunehmen, das Kunstworkshops und öffentliche Gedenkveranstaltungen beinhaltet. Es wird gemeinsam von den Arolsen Archives International Center on Nazi Persecution, der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora und der Weimarer Mal- und Zeichenschule, wo Mauny im August 2023 seine neue Stelle antrat, finanziert.

„Ich habe einen vollkommen neuen Zugang zur deutschen Erinnerungskultur gewonnen“, schrieb die Gothaer Bildhauerin Carolin Borchard über ihre Teilnahme an einem Filmworkshop als Teil des Projekts Erinnerungslücke. „Herr Mauny hat auf mich bleibenden Eindruck hinterlassen und mich inspiriert, mich privat wie beruflich noch bewusster mit diesem Thema auseinanderzusetzen und umso vehementer für die Betroffenen einzutreten.“

Maunys Arbeit „ist ein Gewinn für Gotha, für die Demokratie und für die Menschlichkeit. Das ist im Angesicht der vermehrten Unterstützung für rechtsradikale Kreise in Thüringen so wichtig“, sagt Judy Slivi, pädagogische Mitarbeiterin aus Gotha.

„Die Auseinandersetzung in der Gothaer Museumslandschaft mit jüdischen Themen und Demokratiebildung war vor der Tätigkeit Christoph Maunys eher marginal“, sagt Slivi, die ihn durch seine Arbeit bei der Stiftung Schloss Friedenstein kennenlernte. „Mit seinen kreativen Projekten berührte er mich und die Menschen, die an seinen Projekten teilhaben durften. Er hat viele Menschen zum Nachdenken gebracht.“

Mauny hat zwar gerade seine neue Stelle angetreten, aber er hat bereits einen weiteren Plan, den er gerne mit den vielen Ehrenamtlichen verwirklichen möchte. „Ich möchte für alle diejenigen, deren Namen wir gemeinsam ausfindig machen, Nachrufe veröffentlichen“, sagt er. Diese Nachrufe sollen von November 2024, 80 Jahre nach der Einrichtung des Lagers Ohrdruf, bis April 2025, dem 80. Jahrestag seiner Befreiung, täglich in der Lokalzeitung erscheinen.

„Genau dort, wo alle Großmütter und -väter die Namen ihrer Nachbarinnen und Nachbarn suchen“, werden sie die Namen der ehemaligen Gefangenen sehen, sagt Mauny. „Das wird die Geschichte wieder in den öffentlichen Blick bringen. Es geht darum, Menschen zu verbinden, die Jahre zu überbrücken und in das eigene Umfeld hineinzugehen. Das scheint natürlich sehr negativ zu sein, aber ich denke, es bringt diesen Menschen auch ein wenig Würde.“

— Obermayer Award 2024

 
 

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