Obermayer German Jewish History Award

Barbara Greve

Gilserberg, Hessen

Wenn man Barbara Greve fragt, was sie dazu bewegt hat, die jüdische Vergangenheit im hessischen Kreis Ziegenhain aufzudecken, bekommt man eine „nicht sehr deutsche“ Antwort: „Es ist vielleicht nicht ganz richtig ausgedrückt, aber für mich ist es eine Art Mitzwa“, erklärt sie, „eine moralische Verpflichtung. Ich gebe Menschen ihre Geschichte zurück.“

In der Tat zieht Greve, eine Grundschullehrerin, die es sich zur Aufgabe gemacht hat 400 vergessene Jahre jüdischer Geschichte in ihrer Region zu retten, einen Großteil ihrer Leidenschaft aus dem Wunsch, vor Ort die Fakten richtigzustellen.

In Neukirchen zum Beispiel, einer der größten Städte im Kreis Ziegenhain, hieß es immer, dass nur neun Juden während des Holocaust deportiert wurden. „Aber es wurden viel mehr Menschen deportiert oder vorher vertrieben, und ich wollte zeigen, dass es mehr Opfer gab als man dachte“, erklärt Greve. So erstellte sie unter dem Titel „Jeder Mensch hat einen Namen“ eine Sammlung einzelner Biographien der jüdischen Einwohner von Neukirchen seit 1900 und fand dabei heraus, dass damals mehr als 100 Juden im Ort lebten. „Über die Hälfte von ihnen kam ums Leben, aber das wissen die Menschen heute nicht mehr. Diese 100 Menschen waren einst Nachbarn, mit denen man spielte und die Jugend verbrachte. Aber sie wurden vergessen. Das ist es, was ich zeigen wollte. Ich wollte [den Menschen] einen Teil ihrer Wurzeln zurückgeben.“

Greve wurde 1946 in Berlin geboren und hatte schon früh Kontakt zu Juden. Als sie acht Jahre alt war, kam ein Mädchen aus Israel in ihre Klasse und wurde neben sie gesetzt; heute lebt das Mädchen von damals in Shanghai, doch die beiden verbindet eine lebenslange Freundschaft. Am Gymnasium bestand die Klasse teilweise zu einem Drittel aus Juden mit Eltern, die im Krieg geflohen, aber später zurückgekehrt waren. Der Schuldirektor hatte den Krieg sogar versteckt in Deutschland überlebt. Von Anfang an „interessierte ich mich sehr für das Judentum. Es wurde mir vertraut“, erklärt Greve.

1976 heiratete sie und bekam kurz darauf ein Kind. Die Familie zog nach Hessen, in eine ehemalige, allerdings stark verfallene Wassermühle „am Ende der Welt“, die sie renovierten. Greve studierte an der nahe gelegenen Universität Marburg Europäische Ethnologie und Kunstgeschichte, weil „ich wissen wollte, wovon ich umgeben war – welche Menschen hier gelebt hatten, wer sie waren“. Im Rahmen ihrer kulturhistorischen Forschungen zur Region Schwalm stieß Greve schließlich auch erstmals auf die Geschichte der Juden im Kreis Ziegenhain.

„Ich wollte wissen, wie sie lebten, wie ihre Religion war und insbesondere wie sie diese Religion in den sehr traditionell-christlichen Dörfern ausüben konnten“, erinnert sie sich. Sie begann Artikel zu jüdischen Themen zu schreiben und brachte schließlich ihr erstes Buch heraus: „Heimatvertriebene Nachbarn“. Mit dem Schwerpunkt auf Oberaula, Neukirchen und anderen Städten in der Region machte sie sich daran die jüdische Geschichte der Region zu schreiben. Sie durchstöberte Archive zur Zeit zwischen den Weltkriegen und kontaktierte ehemalige jüdische Einwohner in aller Welt.

Als Lehrerin initiierte sie ein interaktives Programm, bei dem Viertklässlern die Geschichte der Juden, die einst in der Stadt Rauschenberg gelebt hatten, vermittelt wird. Sie reiste durchs Land, hielt Vorträge in verschiedenen Dörfern und erklärte die Symbole und Rituale des Judentums, von Grabinschriften bis hin zur Bedeutung des Pessach. „Sich daran zu erinnern, dass es einst so viele Juden hier gegeben hatte und dann [zu sagen], ,Was ist mit ihnen geschehen?‘“, erklärt Greve. „Das ist die Frage, die ich stellte: Was passierte mit all den anderen? Die jüngere Generation hatte noch nie zuvor etwas über jüdisches Leben gehört. Es gibt keine Juden in ihrem Umfeld; manch einer lebt direkt neben der ehemaligen Synagoge und ahnt nichts davon. Und vom jüdischen Friedhof wusste man wohl, dass es ihn gibt, aber niemand ging dorthin, niemand konnte die Traditionen erklären. Das war mein Projekt: einen Beitrag zur Wissensvermittlung zu leisten.“

Greve sammelte Informationen zu den aus dem Kreis Ziegenhain deportierten jüdischen Familien, stets von der grundlegenden Frage ausgehend: „Was geschah mit ihnen? Sind sie entkommen? Wurden sie deportiert?“ Sie kontaktierte Verwandte und bat sie um Fotos und Dokumente. Mit geradezu detektivischem Einsatz setzte sie dann die Teile zusammen.

In vielen Fällen war das nicht einfach. Einige jüdische Dokumente waren im Laufe der Zeit abhanden gekommen. In anderen Fällen hinderte das deutsche Datenschutzgesetz Greve daran, auch nur die grundlegendsten Fakten aus den Archiven herauszuziehen, wie Heirats- und Sterbedaten. „Ich konnte also nur zum Friedhof gehen und auf die Grabsteine schauen, wo die Daten geschrieben standen“, erklärt Greve. „Das war sehr interessant – wie ein großes Puzzle. Es macht mich glücklich, wenn ich fehlende Glieder in den Familiengeschichten finde.“

Zu ihren persönlichsten Entdeckungen gehören ein Foto und ein Brief, geschrieben von dem 16-jährigen Mädchen Bettina Wallach, das aus Oberaula ins Konzentrationslager deportiert wurde. Über die Erfahrungen dieses Mädchens schrieb Greve einen bewegenden Artikel. Aber „es gibt so viele, von denen nichts geblieben ist. Es ist sehr wichtig über diese Kinder zu sprechen. Niemand kennt sie. Es gibt keine Fotos, keine Briefe, keine Unterlagen – einfach gar nichts. Ich weiß aus den Geburtsregistern, dass sie existierten, aber niemand kann mir etwas über sie erzählen, niemand erinnert sich.“

Greves „aufopfernde und akribische Arbeit über viele Jahre hinweg hält die Hoffnung auf ähnliche Erfahrungen wie meine aufrecht“, erklärt Marienne Duggan aus Victoria, Australien. „Frau Greve hat einzigartige und wertvolle Informationen über eine kleine, aber stolze und lebendige jüdische Landgemeinde in Hessen gerettet und dafür gesorgt, dass zukünftige Generationen ihre reichen Wurzeln kennen und besser verstehen lernen können.“

Elizabeth Levy, eine Nachfahrin von Juden aus Oberaula, ist dankbar, dass Greve „es geschafft hat, viele Stammbäume zu rekonstruieren, die bis auf das Jahr 1600 zurückgehen… [und] in ihren zahlreichen Artikeln, Büchern, Publikationen und Vorträgen das Leben und komplette Gemeinden in diesen Dörfern wieder auferstehen zu lassen. Barbara bemüht sich darum, den Menschen von heute zu vermitteln, dass jüdisches Leben und jüdische Geschichte auch ein Teil des deutschen Lebens und der deutschen Geschichte ist.“ Seit ihrer Pensionierung im Jahr 2007 hat Greve sich mit der Erforschung der Geschichte dreier Synagogen im Kreis Ziegenhain beschäftigt. Ihre Ergebnisse sollen in einer Anthologie über hessische Synagogen veröffentlicht werden.

„Dabei geht es mir um zwei Dinge: Einerseits ist es mir wichtig, den jüdischen Menschen einen Teil ihrer Wurzeln zurückzugeben. Andererseits möchte ich aber auch vor Ort die Erinnerung an die Menschen wach halten, die einst in unserer Nachbarschaft lebten, daran, dass sie Juden waren und dass man sie gekannt hätte.“

 
 

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