„Wir haben ein Problem und wir können es nicht verschweigen.“

Augen auf e.V. hilft Migrant*innen und kämpft gegen Vorurteile und Extremismus

Toby Axelrod

„Der wilde, wilde Osten“ — damit ist die ehemalige DDR im ersten Jahrzehnt nach der deutschen Vereinigung treffend beschrieben. Rechte Gewalttäter*innen tobten sich aus und machten Minderheiten, Ausländer*innen, Wohnungslose und andere gefährdete Gruppen zur Zielscheibe. 

 Das war auch in der sächsischen Kleinstadt Zittau, im Dreiländereck von Polen, Tschechien und Deutschland, der Fall. „Damals hatten wir hier, was man national befreite Zone nannte“, sagt Sven Kaseler. „Es gab hier sehr viele rechte Kameradschaften. Und die waren sehr aktiv und sehr gewalttätig.“

Die Situation wurde oft „unter den Teppich gekehrt.“ Er und seine Freund*innen kamen zu dem Schluss: „Wir müssen darüber reden. Wir haben ein Problem und wir können es nicht verschweigen.“

Im Jahr 2000 begannen sie, in Zittau und Umgebung Projekte gegen Extremismus zu organisieren. Den Verein Augen auf gründeten sie 2004. Heute zählt er mehr als 50 Mitglieder und sieben Angestellte in Teilzeit, und bis zu 300 Personen engagieren sich regelmäßig ehrenamtlich.

Sie alle haben nicht nur die Augen auf, wie der Name des humanistisch orientierten Vereins nahelegt — sie hören auch zu, und sie handeln. 

„Wir werden tätig bei Problemfeldern, die nicht bearbeitet werden, sei es an Schulen, sei es in Gemeinden“, sagt Kaseler. Dazu gehört, Antisemitismus und Antiziganismus an der Wurzel zu bekämpfen und neu zugewanderten Migrant*innen zu helfen, mit Diskriminierung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt umzugehen.

Indem Augen auf Kindern und Jugendlichen die lange Geschichte der jüdischen Gemeinde vor Ort und ihr Schicksal während des Holocausts nahebringt, hilft der Verein ihnen, über die Gefahren des Rechtsextremismus Schlussfolgerungen zu ziehen. Wenn die Schüler*innen sich mit der antisemitischen Propaganda NSi-Deutschlands in zeitgenössischen Zeitungen und Briefen beschäftigen, dann können sie Vorurteile und Ausgrenzung in ihrem alltäglichen Umfeld erkennen und ablehnen.

Wer extremistisches Gedankengut in sich trägt, der ist für uns nicht mehr erreichbar. Und wir möchten das verhindern.
— Sven Kaseler

Das Hauptarbeitsgebiet von Augen auf ist „das Ringen um die Demokratie und der Kampf gegen Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus, der mittlerweile auch in der Mitte der Gesellschaft sehr stark ist“, sagt Sven Kaseler, der als Produktmanager für die Deutsche Bahn beruflich tätig ist. Er ist nicht nur Gründungs- und Vorstandmitglied von Augen auf, sondern vertritt den Verein im Netzwerk Tolerantes Sachsen, in dem 150 Vereine zusammenarbeiten.

Augen auf möchte Menschen ansprechen, bevor sie in den Rechtsextremismus abrutschen, sagt Kaseler. „Wer extremistisches Gedankengut in sich trägt, der ist für uns nicht mehr erreichbar. Und wir möchten das verhindern.“

Augen auf begann als Begegnungsort, sagt Armin Pietsch, 58, der bei Integration Aktiv arbeitet, einem Projekt von Augen auf, das mit Bürger*innen, Vereinen, Behörden und Migrant*innen zusammenarbeitet, um eine stärker integrierte Gesellschaft zu fördern. „Über die Jahre hat es sich tatsächlich herausgestellt, dass wir echtes Vertrauen aufbauen konnten.“

Zum Teil hatten sie Erfolg, „weil wir so verrückt sind, weil wir mal gelacht haben und weil wir mal Dinge gemacht haben, die sich andere nie getraut hätten“, fügt Kaseler hinzu.

Dazu gehört ein antirassistisches Fußballturnier namens „Fußball grenzenlos“, das es seit mittlerweile 16 Jahren gibt, und eine „Verschwörungsparty“ mit Spielen, bei denen die Menschen lernen zu erkennen, wenn man ihnen Lügen auftischt.

Wenn man Menschen einfängt, bevor sie den Verschwörungsmythen aufgesessen sind, ist es schon mal ein guter Anfang, sagt Sven Kaseler. „Ich denke mir schnell eine eigene Verschwörungsgeschichte aus und die Leute sagen: ‚Du spinnst doch‘, und das ist der Punkt, wo ich sie habe.“

Weitere Projekte sind u. a. „Demokratie — stark gemacht!“, das Gemeinden in der Region unterstützt, die mit Rechtsextremismus vor Ort umgehen müssen; interkulturelle Festivals; Veranstaltungen an Schulen (oft im Zusammenhang mit dem Holocaust und anderen Themen der jüdischen Geschichte); und dem Café Solidarité, das zu einem Magneten für Migrant*innen und ihre Freund*innen geworden ist.

„Es gibt schöne Dinge“

Abualtayeb A., 28, kam vor vier Jahren aus dem Irak hierher und ging zuerst ins Café Solidarité, um Kontakte zu knüpfen, sein Deutsch zu verbessern und Hilfe für den Umgang mit der deutschen Bürokratie zu bekommen. Heute ist er dort als Dolmetscher, Berater, Buchhalter und Event-Organisator ehrenamtlich tätig.

Kürzlich hat er mit anderen Gruppen in Zittau an der Vorbereitung eines Pro-Demokratie-Festivals mitgewirkt. Dabei hat er „drei Wochen durchgearbeitet, ohne Pause, ohne Wochenende. Wir wollten zeigen, dass es hier in Sachsen, im Osten Deutschlands, schöne Dinge gibt, nicht nur Neonazis.“

Etwa 3.000 Menschen haben am Festival teilgenommen, und die Hälfte der 80 Ehrenamtlichen waren Migrant*innen wie Abualtayeb, sagt Sven Kaseler. „Das sind so ein bisschen auch die Früchte unserer jahrelangen Arbeit in der Integration. Man lacht zusammen, man arbeitet zusammen.“

 
 

Augen auf wirft auch auf ungewöhnliche Weise ein Schlaglicht auf die Erfahrungen von Geflüchteten. 

Im Jahr 2018 gestaltete der Verein eine Wanderausstellung mit mehr als 2.000 Paar Schuhen. Sie wurden von Ehrenamtlichen gesammelt und stellten die Anzahl Geflüchteter dar, die in dem Jahr im Mittelmeer ertrunken waren. „Die Leute hat es berührt, die hat es ergriffen ... auf einmal war diese Zahl begreifbar“, sagt Sven Kaseler.

Augen auf hat auch einen kreativen und ungewöhnlichen Ansatz, um schwierige Themen anzusprechen. Seit 2021 veranstaltet der Verein Führungen durch das „jüdische Löbau“ und das „jüdische Zittau“, bei denen er die Geschichte nachzeichnet und der NS-Geschichte der beiden Städte ins Auge sieht, sagt Pietsch. Gemeinsam mit Schüler*innen ist er den Wegen von Jüdinnen und Juden in Zittau während des Nationalsozialismus gefolgt, von ihren Wohnungen und Arbeitsplätzen zur Deportation über Dresden in das Konzentrationslager Theresienstadt in der ehemaligen Tschechoslowakei.

„Und dann habe ich eine Schulklasse nach Auschwitz begleitet“, sagt er. „Die stärksten Eindrücke hatte ich dann nicht mal an dem Tor, sondern in Birkenau an dem großen Denkmal [dem Stein der Märtyrer] ... dann kommen dir ja augenblicklich die Gedanken an diese Leute aus deiner Heimatstadt, mit denen man da im Gedanken unterwegs gewesen ist.“

Augen auf hat sich auch an der Verlegung von Stolpersteinen in der Region beteiligt, die sich jeweils vor der letzten Wohnung von Jüdinnen und Juden vor ihrer Deportation durch die Nationalsozialisten befinden. Außerdem arbeitet der Verein mit Zeitzeug*innen, erarbeitet Fotoausstellungen wie „Im Schatten von Auschwitz“ und organisiert Projekte über die ersten Konzentrationslager in Sachsen.

Über Jahre hinweg hat Augen auf zusammen mit der Journalistin Erika Rosenberg, der Biografin von Oskar und Emilie Schindler, Schulen in und um Görlitz besucht. Sie sprach über die „Gerechten unter den Völkern“ - Menschen, die während des Holocaust Jüdinnen und Juden retteten.

Über seine ersten Treffen mit Holocaustüberlebenden und jetzt mit ihren Nachkommen sagt Pietsch: „Und das bleibt ganz, ganz sehr in mir drin.“ Bei Augen auf hört er heute den Geschichten einer vollkommen anderen Gruppe zu, Geschichten von Migrant*innen und Geflüchteten, und dennoch ist seine Aufgabe quasi dieselbe.

„Ich hatte auch Angst.“

„Wir versuchen alle, direkt mit Menschen zu sprechen, die betroffen sind von irgendeiner Tragödie, sodass wir auch diese Botschaft weitergeben können“, sagt Pietsch.

 Das kann auch unerwartet geschehen.

Ein junger Mann öffnete sich beim Pizzamachen in der Küche des Cafés gegenüber Pietsch. „Armin, hast du schon mal in ein Maschinengewehr reingesehen?“ fragte der junge Mann, dem die Flucht aus Libyen gelungen war.

„Da hab ich den angesehen. ‚Nein.‘

,Ich schon. Ich hatte auch Angst.‘“

Heute sagt Armin Pietsch: „Ich weiß nur, dass es ein weiter Weg gewesen ist für ihn und für viele andere, dass sie dann angekommen sind und dass sie, ich will nicht mal sagen, ein normales Leben leben können. Aber ja, sie sind angekommen und sind noch am Leben.“

Sven Kaseler und Abualtayeb Al-Azzawi

Abdulrahman A., 38, sagt, dass er wegen Augen auf wieder mehr Vertrauen in die Menschheit hat. Er war aus dem kriegsgebeutelten Syrien mit seiner schwangeren Frau Hevin, 36, und ihren vier Kindern, darunter Zwillingen, geflohen. Sie legten den Weg zu Fuß, per Schiff, Zug und Bus zurück und kamen 2016 schließlich in Deutschland an.

Heute leben sie in Löbau. Abdulrachman arbeitet nachts in einem Restaurant und ist tagsüber ehrenamtlich in der Küche des Café Solidarité tätig, wo seine Frau gelegentlich auch mitmacht. „Dort gibt es viele Leute, liebe Leute, gute Leute und die Leute haben kein Rassistenherz“, sagt Abdulrahman.

„Deutschland ist besser als meine Heimat“, sagt Hevin. „Ich möchte für meine Kinder eine bessere Zukunft.“

Abualtayeb verließ den Irak, weil er aufgrund seiner Körperbehinderung nicht die Möglichkeit hatte, seinen Traumberuf Orthopädieschuhmacher zu ergreifen. Als versierter paralympischer Fechter suchte er zudem einen Verein, in dem er diesen Sport betreiben konnte. Augen auf half, Kontakte herzustellen.

 Als Abualtayeb eine Wohnung suchte, halfen sie ihm erneut.

„Es gibt ein Vorurteil, dass junge Männer aus arabischen Staaten sehr, sehr gefährlich wären“, sagt Sven Kaseler. „Wenn wir ihnen helfen, eine Wohnung zu suchen und wenn es dann herauskommt, dass wir die Wohnung für einen jungen Mann aus Afghanistan oder Syrien suchen, dann merke ich am Telefonhörer, die andere Seite, der fällt gerade der Mund ein bisschen runter.“

So war es auch für Abualtayeb: „Ich hatte immer Angst, dass sie mich ablehnen würden, wenn ich mich vorstelle, weil ich Ausländer bin“, sagt er. „Dann hat Armin mit einer Frau telefoniert, und er konnte sie überzeugen.

Man braucht immer Hilfe, wenn man in ein neues Land kommt“, sagt Abualtayeb. „Der Anfang ist immer schwierig. Man sollte nicht aufgeben, sondern weitermachen, bis man die eigenen Ziele erreichen kann.“

Mehr als zwei Jahrzehnte nach der Gründung von Augen auf sind die gesellschaftlichen Probleme im Gebiet der ehemaligen DDR keineswegs gelöst. Ganz im Gegenteil: eine rechtsextreme, ausländerfeindliche Partei wurde vor Kurzem bei den Wahlen stärkste politische Kraft im sächsischen Landtag und konnte in anderen Bundesländern ähnliche Gewinne verzeichnen.

„Es interessiert keinen“, beklagt sich Sven Kaseler. „Es ist kein Skandal mehr“, wenn eine solche Partei an der Regierung beteiligt ist. Das muss sich ändern, fügt er hinzu. Augen auf „gibt den Leuten noch mal Mut und zeigt, was möglich ist, aber auch, was wir verlieren könnten, wenn gewisse rechte Kreise die Oberhand behalten.“

— Obermayer Award 2025

Beim Festival „Herz in der Hand“, das von Augen Auf organisiert wurde, ging es um Kreativität, Kultur, Mut und Engagement.