Obermayer Award

 „Es war eher eine Abwesenheit als eine Präsenz.“

Für Anneke de Rudder geht es bei der Rückgabe gestohlener Objekte darum, Familien wieder in Kontakt zu bringen

Toby Axelrod

Leerstellen kann man zwar nicht sehen, aber sehr wohl spüren. Anneke de Rudder verfügt über die Empathie, um in Deutschland Leerstellen zu erkennen, wo das jüdische Leben einst florierte. Und sie widmet sich der Aufgabe, Menschen wieder mit ihrer eigenen Geschichte zu verbinden und zumindest symbolisch diese Leerstellen zu füllen.

Dass die auf der ganzen Welt verstreuten Nachkommen einer prominenten deutsch-jüdischen Familie einander gefunden haben, ist weitgehend ihrem Engagement zu verdanken. Und dies hat auch Auswirkungen auf die Stadt in Deutschland, wo ihr gemeinsamer Vorfahr lebte und wo de Rudder selbst aufgewachsen ist: Lüneburg.

De Rudder gehört zum kleinen Kreis der Glücklichen, die sich beruflich und ehrenamtlich in demselben Bereich engagieren.

Als Provenienzforscherin für die Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg ist es seit 2018 ihre Aufgabe, während der Nazi-Zeit widerrechtlich angeeignete Objekte, etwa Briefe, Büchersammlungen und Autografen berühmter Schriftsteller*innen, ihren rechtmäßigen Erben zukommen zu lassen. Davor hat sie am Museum Lüneburg dieselbe Arbeit gemacht. Sie war auch für Museen in ganz Deutschland an der Entwicklung von Ausstellungen zur Nazi-Vergangenheit beteiligt und hat im Auftrag von Yad Vashem in Israel Recherchen durchgeführt.

Insgesamt arbeitet sie seit 27 Jahren in diesem Bereich.

Mittlerweile hat sie sich – überwiegend in der Freizeit – eingehend mit der Geschichte der Jüd*innen in Niedersachsen befasst. Ihr aktuelles Projekt ist eine Website und Datenbank zur Geschichte des jüdischen Lebens in Lüneburg. Sie ging am 9. November 2023, dem 85. Jahrestag der antijüdischen Pogrome in Deutschland, online.

Das Ziel der Website ist, im Laufe der Zeit Namen, Daten, Fotografien, Dokumente und Geschichten von rund 800 Personen vom 17. Jahrhundert bis zu den 1950er Jahren bereitzustellen. Anneke de Rudder arbeitet in Partnerschaft mit dem Museum Lüneburg, der Christlich-Jüdischen Gesellschaft und der Geschichtswerkstatt zusammen. Sie beschreibt die Website als „moderne, offene und sich ständig weiterentwickelnde Plattform, um zu gedenken, Wissen zu teilen, Geschichten zu erzählen und die Nachkommen von jüdischen Familien aus Lüneburg aus der ganzen Welt mit den Menschen, die heute in Lüneburg leben, zusammenzubringen.“

Die Leerstelle füllen 

De Rudders Leidenschaft geht weit über die Dokumentation von Objekten hinaus. Sie verfolgt die Spuren genealogischer Hinweise, die sie zu den Nachkommen von Familien mit Verbindungen zu Vorkriegsdeutschland geführt haben. Die Begegnungen mit ihnen haben viele Leben verändert.

„Sie hat unserer Familie geholfen, etwas über unsere deutsche Familiengeschichte zu erfahren“, sagt Becki Cohn-Vargas, die in der Nähe von San Francisco wohnt. „Mittlerweile ist sie eine Freundin geworden.“

Schon in jungen Jahren begann de Rudder, sich für dieses Kapitel der Geschichte zu interessieren.

Als Studentin in Berlin ist ihr „aufgefallen, dass etwas fehlt“.

„Früher haben Jüdinnen und Juden dort gelebt und gearbeitet. Man wusste, dass sie Teil von etwas sehr Gutem waren, [aber] sie waren nicht mehr da“, sagt sie. „Als ich durch die Straßen von Berlin ging, war mir die Vergangenheit bewusst. Das wäre aber nicht unbedingt bei allen der Fall, denn es war eher eine Abwesenheit als eine Präsenz.“

Sie wollte die Leerstellen füllen und beschäftigte sich daher mit dem Leben deutscher Jüdinnen und Juden, die als neue Bürger*innen der USA oder England in der Nachkriegszeit Deutschland besuchten und sich an der Gestaltung der Zukunft in ihrer früheren Heimat beteiligten. Deutschland hatte Glück, dass es Verbündete gab, „die sich viele Gedanken darüber machten, wie man verhindern könnte, dass es noch einmal passiert“, sagt sie.

Sie hat von unseren Vorfahren Brücken zu unserem Leben heute gebaut und die Erinnerung an diejenigen Familienmitglieder, die nicht fliehen konnten, wiederbelebt.
— Ruth Verroen

Wegen ihres Interesses an der US-amerikanischen Geschichte wählte sie als Thema ihrer Magisterarbeit an der Freien Universität Berlin einen Vergleich der Reaktionen in den USA und Deutschland auf die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, wobei sie sich auf die Beobachtungen von Journatlist*innen stützte.

Nach dem Studium führte sie im Auftrag der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Deutschland Recherchen durch. Danach arbeitete sie bei der Gedenkstätte Sachsenhausen, am Standort des Konzentrationslagers nahe Berlin, in einer Gruppe, die eine Dauerausstellung über jüdische Inhaftierte vorbereitete. Sie und andere junge Forschende reisten nach Israel, um Überlebende persönlich kennenzulernen und zu interviewen. Diese Reise hat sie nachhaltig geprägt und war der Beginn ihrer Karriere als öffentliche Historikerin und letztlich als Provenienzforscherin.

De Rudder zog später wieder in die Nähe von Lüneburg aufs Land und gründete eine Familie. Sie hatte mehrere befristete Stellen mit Schwerpunkt Regionalgeschichte während der Nazi-Zeit. So bekam sie Kontakt zum Lüneburg Museum, das in der neuen Dauerausstellung die Nazi-Zeit thematisieren wollte.


Becki Cohn-Vargas und Anneke de Rudder

Familie Heinemann


Das Museum bereitete zudem ein Projekt zur Provenienzforschung vor. Der Lokalhistoriker Hans-Jürgen Brennecke hatte 2012 begonnen, das Museum unter Druck zu setzen, in den Sammlungen nach Beutegut zu suchen. Er hatte ein Protokoll einer Auktion aus dem Jahr 1940 gefunden, das dokumentierte, wie Eigentum der dort ansässigen jüdischen Familie des Bankiers Marcus Heinemann (1819-1908) zwangsversteigert wurden, nachdem die meisten seiner Nachkommen ins Exil geflohen waren. Das Museum hatte einige Gegenstände gekauft, und einige – eine Familienbibel, eine Holztruhe aus dem 14. Jahrhundert mit wunderschöner Schnitzerei, historische Möbelstücke und einige Sammlerstücke mit Lüneburg-Motiven – waren immer noch dort, da sie die Bombenangriffe im Krieg überdauert hatten. Im Jahr 2014 fing de Rudder an, als Teil eines größeren Projekts des Museums zur Provenienzforschung dieser Angelegenheit nachzugehen.

„Es war ein klarer Fall von Nazi-Beutegut“, sagt de Rudder zu den Objekten der Heinemanns. „Das Museum war bei der Auktion nicht anwesend, sondern hatte die Person kontaktiert, die das Vermögen verwaltete. Und sie sagten: ‚Wir möchten einige Objekte für das Museum haben. Sie sollen nicht versteigert werden.‘“

Auf der Suche nach Erben

De Rudder machte sich auf die Suche nach Nachkommen von Marcus und Henriette Heinemann. Sie hatten 17 Kinder, von denen 13 das Erwachsenenalter erreichten. Marcus hatte zudem zwei Geschwister, die ihrerseits Kinder hatten.

Über einen Nachruf auf eine ihrer Enkelinnen in den USA fand de Rudder die amerikanische Pädagogin Becki Cohn-Vargas, eine Ururenkelin von Marcus und Henriette. Sie schickte ihr eine E-Mail, und sie traten miteinander in Kontakt.

„Anneke und ich wurden sofort zu Partnerinnen in dieser Sache“, erinnert sich Cohn-Vargas. Über einen Ozean und einen Kontinent hinweg arbeiteten sie zusammen, um weitere Nachkommen zu finden. Es ging nicht so sehr um Restitution, sagt sie. „Die Gegenstände waren nicht von extrem hohem Wert. Und es waren so viele Menschen! Es wurde eine andere Art Entdeckungsreise: Menschen zu finden.“

Zusammen fanden sie 60 weitere Familienmitglieder in den USA, Großbritannien, Israel, Guatemala, Mexiko, Kanada, den Niederlanden und sogar Deutschland. Als Cohn-Vargas von ihren weit verstreuten Verwandten erfuhr, war sie erstaunt und bewegt. Sie sagt: „Hitler hat versucht, uns alle auszulöschen, und schauen Sie mal, wo die Überlebenden leben und was sie in der Welt machen!“

De Rudder sagt, dass sie so viele Nachkommen kontaktiert hat, wie sie erreichen konnte, um sie über die Gegenstände in der Sammlung zu informieren: „Wir haben dieses Objekt gefunden. Wir denken, dass es Ihnen gehört. Wir habe es im Grund gestohlen. Und jetzt möchten wir es Ihnen zurückgeben, weil Sie die rechtmäßigen Erben sind.“

Die Erben, die jetzt miteinander Kontakt hatten, entschieden sich dafür, die Restitution anzunehmen und die Objekte dem Museum wieder zu leihen. Im Jahr 2015 reisten 40 Mitglieder der Heinemann-Familie nach Lüneburg zu einem Familientreffen und einer Restitutionszeremonie, die de Rudder mit Unterstützung von Cohn-Vargas, Kristina Heinemann aus New York, Naomi Raz aus Israel und vor allem Ruth Verroen aus Marburg organisierte. 

Die Gäste besuchten die Wohnung, in der Marcus und Henriette Heinemann gewohnt hatten, und ein Künstleratelier in den Räumen der ehemaligen Synagoge. Ein Rabbiner war eingeladen, zu Ehren der Mitglieder der Familie Heinemann, die von den Nazis ermordet worden waren, einen Gottesdienst zu leiten.

„Anneke erstellte an einer Wand im Museum einen Familienstammbaum mit Fotos von Familienmitgliedern“, sagt Ruth Verroen, die von den meisten noch nie gehört hatte. „Ihr ist es zu verdanken, dass manche von uns jetzt eng befreundet sind… Sie hat von unseren Vorfahren Brücken zu unserem Leben heute gebaut und die Erinnerung an diejenigen Familienmitglieder wiederbelebt, die nicht fliehen konnten und vom Nazi-Terror ermordet wurden.“

De Rudder hat anderen jüdischen Familien geholfen, mit ihrer deutschen Geschichte in Verbindung zu treten, manchmal durch zurückgegebene Objekte. Bevor sie bei der Staatsbibliothek Hamburg arbeitete, fand sie auf deren Website einen ungelösten Fall: ein von den Nazis erbeutetes jüdisches Gebetbuch, das Theodor Philipp, einem Lehrer in der Jüdischen Gemeinde Lüneburg im 19. Jahrhundert, gehört hatte. Sie fand Erben und vermittelte die Rückgabe des Buchs an die Familie. Sie hat auch versucht, Einzelpersonen dabei zu unterstützen, Objekte an ihre rechtmäßigen Eigentümer zurückzugeben. Im Jahr 2022 sagte eine Frau aus Köln, dass eine ihrer Vasen früher einer jüdischen Familie gehört hatte. De Rudder half ihr, die Erben ausfindig zu machen.

Im Laufe der Jahrzehnte hat es einen gesellschaftlichen Wandel gegeben, und viele Leerstellen, die de Rudder als junge Frau gespürt hat, sind mittlerweile mit Erinnerungen, mit neuen Verbindungen, mit Erinnerungszeichen gefüllt – von Stolpersteinen bis hin zu Stelen. Nicht nur Einzelpersonen haben ihre Familien- und Lokalgeschichte erforscht, sondern einige Institutionen und Unternehmen in Deutschland haben ihre Archive geöffnet, Historiker*innen beauftragt und – in unterschiedlichem Ausmaß – ihre Geschichte während des Zweiten Weltkriegs offengelegt.

„Jetzt gehört es zu meiner Arbeit, in Institutionen zu arbeiten, die in der Vergangenheit Böses getan haben“, erläutert de Rudder. „Und ich denke, dass die meisten dieser Institution heute keine Probleme mehr damit haben, damit umzugehen. Sie erkennen das an.“

Trotz all der öffentlichen Erinnerungsarbeit weichen manche Deutsche immer noch der persönlichen Perspektive aus, sagt sie. „Sie sagen, ‚ja, da sind so viele schreckliche Dinge passiert‘, aber sie wollen sich nicht wirklich damit konfrontieren, was das genau bedeutete. Sie sagen, ‚ach, ich möchte eigentlich keinen Stolperstein vor meinem Haus. Warum muss ich anerkennen, dass es tatsächlich hier geschehen ist?‘“

Früher war sie deswegen deprimiert, aber „manchmal denke ich, dass es Hoffnung gibt.“ Schließlich haben viele Menschen an ihren Vorträgen und Museumsführungen über die jüdische Geschichte Lüneburgs teilgenommen, und manche möchten mehr dazu erfahren.

In Partnerschaft mit Nachkommen und zahlreichen Institutionen war de Rudder daran beteiligt, Verbindungen zur Vergangenheit Schritt für Schritt wieder aufzubauen: „als ob Anneke das jüdische Erbe von Lüneburg soweit möglich wiederbelebt hat“, sagt Naomi Raz.

„Dieses neue Wissen über die Familiengeschichte hat mein Leben verwandelt“, sagt Kristina Heinemann. Sie erinnert sich, wie de Rudder ein Tagebuch und die Memoiren einer der Töchter von Marcus Heinemann übersetzte, als sie 2018 mit ihr zusammensaß. Gemeinsam hörten sie ihre Worte der „Trauer und Verzweiflung wegen des Umgangs mit den Juden in Lüneburg: ‚Was würde Papa jetzt denken? Wie traurig wäre er darüber, was den Juden widerfährt?‘“

“Ich bin damit aufgewachsen, dass ich von meiner jüdischen Familie nur ein paar Verwandte kannte, die überlebt hatten, und davon ausging, dass die anderen alle im Holocaust gestorben waren“, sagt Ruth March aus England. „Jetzt habe ich eine große, vielfältige Familie, die ich würdigen und erkunden kann.“

„Die Zusammenarbeit mit Anneke hat mich nicht nur mit meiner Familie zusammengebracht“, sagt Cohn-Vargas. „Sie hat auch meine Verbindungen mit deutschen Menschen wiederhergestellt, die wie ich sich dafür engagieren, Borniertheit zu bekämpfen und die Geschichte anzuerkennen.“

— Obermayer Award 2024

 
 

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