Obermayer German Jewish History Award

Helmut Urbschat und Manfred Kluge

Vlotho, Nordrhein-Westfalen

Während seiner Tätigkeit als Gymnasiallehrer stellte Helmut Urbschat "mit Entsetzen fest, dass die Mädchen und Jungen fast nichts wussten" über die jüdische Geschichte ihrer Stadt. Daraufhin schrieb er einen Brief an die Lokalzeitung, organisierte ein Treffen und gründete 1965 die Mendel-Grundmann-Gesellschaft mit dem Ziel, die jüdische Geschichte von Vlotho, einer nordrheinwestfälischen 20.000-Einwohner-Gemeinde an der Weser, wieder ins Bewusstsein der Menschen zu rufen.

Die Organisation löste sich jedoch nach wenigen Jahren wieder auf. Einige Mitglieder starben. Urbschat selbst nahm eine Lehrerstelle im Ruhrgebiet an. Und es sah so aus, als ob "wir nie wieder auf die Füße kommen würden", erinnert er sich.

Fast 20 Jahre später half Manfred Kluge, ein Lehrerkollege und vor allem ein begabter Forscher, Schriftsteller und Organisator, die Arbeit wieder aufzunehmen. Im November 1988, zum 50. Jahrestag der Kristallnacht, organisierten Kluge und Urbschat gemeinsam eine "Jüdische Woche". Sie enthüllten einen Gedenkstein an der Stelle, wo die Vlothoer Synagoge zerstört worden war; brachten als Koautoren ein Buch unter dem Titel "Sie waren Bürger unserer Stadt: Beiträge zur Geschichte der Juden in Vlotho" heraus und begrüßten 21 Nachfahren von Vlothoer Juden, die aus aller Welt angereist waren. Dieses Ereignis markiert die Wiedergeburt der Mendel-Grundmann-Gesellschaft.

Diese engagierte, symbiotische Beziehung trägt seither kontinuierlich dazu bei, das jüdische Erbe von Vlotho wieder zum Leben zu erwecken.

"Wir sind ein ausgezeichnetes Team", erzählt Urbschat, 75, ein mehrsprachiger Religionswissenschaftler, der an den Universitäten von Göttingen und Bonn sowie Toronto, Kanada, studierte und in Vlotho verschiedene politische Ämter bekleidet hat. Er verkörpert die Stimme - und die Vision - der Gesellschaft. Kluge hingegen übernimmt den Großteil der Arbeit hinter den Kulissen. Er durchforstet Archive und begleitet federführend die langwierigen Forschungsprojekte, die zu einer Vielzahl von Büchern und Ausstellungen zur jüdischen Vergangenheit von Vlotho geführt haben. "Wir ergänzen uns mit unseren unterschiedlichen Begabungen: Die Schwäche des einen ist die Stärke des anderen", fügt Urbschat hinzu, und letztlich "ist die Geschichte unser gemeinsames Feld."

Keiner der beiden fand auf direktem Wege zu seinem Interesse an jüdischer Geschichte. Für den polyglotten Historiker Kluge, 68, ging es um die Spezialisierung auf ein Gebiet, das er spannender fand als alle anderen. "Mein Hobby ist das Schreiben über die Regionalgeschichte. Ich habe über die kommunistische Geschichte, die Schulgeschichte oder christliche Geschichten aus dem 11. Jahrhundert geschrieben - das ist alles sehr interessant", erklärt er. "Aber ganz besonders interessant war für mich die jüdische Geschichte."

Urbschat dagegen, dessen Vater, ein evangelischer Pastor, 1945 in russischer Kriegsgefangenschaft starb, wurde durch Erlebnisse in seiner Jugend geprägt: So sah er einen mit Juden voll besetzten Güterzug von Frankfurt Richtung Osten abfahren, und er erinnert sich an ein faszinierendes Gespräch mit einem älteren jüdischen Mann, mit dem er ein Krankenhauszimmer teilte. Letztlich war es jedoch die Unwissenheit - und die Abwehrhaltung -, die Urbschat Jahre später bei seinen Schülern feststellte, die ihn aktiv werden ließen. "Die meisten Menschen [in Vlotho] schämten sich für die Nazizeit und wollten einfach nicht darüber sprechen, was damals geschah. Die Gesellschaft wurde gegründet, um diese Lücke zu schließen", so Urbschat.

Die Mendel-Grundmann-Gesellschaft wurde nach einem jüdischen Industriellen im 19. Jahrhundert benannt, der wohltätige Spenden an die armen Fabrikarbeiterfamilien von Vlotho verteilte. Eine der bewegenden lokalen jüdischen Geschichten, auf die die Gesellschaft stieß, handelt von dem US-Emigranten Stephen H. Loeb und einem Schuhkarton voller Briefe von seinen Eltern, die sie vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs aus Vlotho an ihn schrieben, bevor sie deportiert wurden und in der Nähe von Riga starben. 2003 brachte Kluge unter dem Titel "Wir wollen weiterleben" ein Buch mit eigenen Texten sowie Auszügen aus den über 500 Seiten umfassenden Briefen heraus, die Loebs Witwe Betty zur Verfügung stellte. Zu dem Buch gibt es inzwischen eine Bühnenfassung, die in Form von szenischen Lesungen in der Region großen Anklang findet.

Deutlichstes Zeichen der Erinnerung an Vlothos jüdische Vergangenheit sind vielleicht die 41 Stolpersteine, die Urbschat und Kluge vor kurzem zum Gedenken an die jüdischen Holocaust-Opfer der Stadt installiert haben. Im Zusammenhang mit den Steinen durchstöberten sie auch die regionalen Archive und bezogen Daten vom Yad Vashem in Israel, um detaillierte Biographien zu jedem Opfer zu erstellen, die Ende 2008 als Buch erscheinen werden. 

"Ihr Wissen über diese Menschen ist so umfassend, dass man glauben könnte, sie hätten sie persönlich gekannt", so Susan Alterman aus Jacksonville, USA, deren Vater Buchenwald überlebte und die selbst anlässlich der Installation von acht Stolpersteinen für ihre Angehörigen nach Vlotho kam. 

"Wir hoffen, dass wir mit diesen Aktionen viele Menschen erreichen, die bisher nichts über die jüdische Geschichte dieser Stadt wussten - und jetzt darüber nachdenken können", erklärt Urbschat. "Durch die Stolpersteine sind unsere Juden symbolisch in das Stadtzentrum zurückgekehrt."

Dank der Arbeit von Urbschat und Kluge findet die jüdische Geschichte auch immer stärkeren Eingang in die Lehrpläne der örtlichen Schulen. Aber nicht alle unterstützen diese Arbeit. Eine unberechenbare Gruppe von Neonazis, bekannt unter dem Namen "Collegium Humanum", agiert in Vlotho "direkt vor unseren Augen", mahnt Urbschat. Deshalb ist es auch so wichtig, die Aktivitäten der Gesellschaft fortzusetzen - und Proteste zu organisieren wie im Jahr 2005, als 800 Menschen gegen die Rechtsextremisten demonstrierten.

"Entscheidend ist vor allem", erläutert Urbschat, "dass das jüdische Thema nie in Vergessenheit gerät und man immer wieder darüber spricht."

"Wir sind dankbar, den Menschen in Vlotho die Gelegenheit geben zu können, darüber nachzudenken."

 
 

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