Obermayer Award
„Ich muss etwas machen, dass Kinder in ihrem Erstkontakt mit dem Judentum eben nicht beim Holocaust anfangen.“
Bubales und Shlomit Tripp vermitteln Kindern und Erwachsenen jüdische Kultur mit Spaß und Freude
Toby Axelrod
Bunte Farben, lebhafte Figuren, Lachen, Gesang und Überraschungen: All dies bietet Shlomit Tripps Puppentheater Bubales, mit dem sie deutschlandweit den Menschen die jüdische Kultur nahebringt.
Dafür reist sie mit der Bahn – schwer bepackt mit riesigen Koffern, in denen ihre handgefertigten Puppen und Requisiten verstaut sind – von Ort zu Ort. Sie spielt vor großem und kleinem Publikum, Jung und Alt, in Grundschulen ebenso wie in jüdischen Gemeinden, Museen, Moscheen und Geflüchtetenunterkünften. Und während der Pandemie mit ihren starken Einschränkungen bei Präsenzveranstaltungen kann man dem jüdischen Jungen Shlomo und seiner muslimischen Freundin Aische auch online in ihre interkulturelle Welt folgen.
In Deutschland, wo das Wort „Jude“ auch heute noch vor allem mit dem Holocaust verbunden ist, und die Mehrheitsgesellschaft mit einer Mischung aus Neugier und Misstrauen auf Minderheiten schaut, hat das Bubales Puppentheater einen großen Beitrag zum interkulturellen und interreligiösen Brückenbau geleistet.
Manchmal fragt Tripp die Kinder im Publikum, was sie über Juden wissen. Ein vielleicht sechsjähriger Junge antwortete einmal: „Juden, das sind die, die alle umgebracht wurden. Da gab es einen Mann, der hat die nicht gemocht, und der hat die alle umgebracht.“
Tripp sagte sich: „Wenn es das ist, was ein sechsjähriges Kind als Erstes über das Judentum erfährt, wie kann man da ein normales deutsch-jüdisches Verhältnis aufbauen? Da stand für mich fest: Alles klar, ich muss etwas machen, dass Kinder in ihrem Erstkontakt mit dem Judentum eben nicht beim Holocaust anfangen.“
Gesagt, getan, Tripp machte sich an die Arbeit.
In ihrer Heimatstadt Berlin führte sie kürzlich ein Chanukka-Stück vor einem begeisterten, multikonfessionellen Publikum aus Kindern und Eltern auf. Die Kinder saßen auf dem Teppich und rutschten ganz nah heran an die kleine Bühne, auf der „Shlomos Chanukka-Wunderlampe“ in dem abgedunkelten Raum ihren bunten, wirbelnden Lichterschein versprühte. Eifrig riefen die Kinder Antworten auf Fragen zum Thema Chanukka und sangen Chanukka-Lieder mit, zu denen Kerzenpuppen tanzten und sich eine Kreiselpuppe drehte. Nach der Aufführung gab es türkische Snacks.
Die meisten Kinder erfuhren an diesem Tag zum ersten Mal etwas über Chanukka, und die Besucher*innen sprühten nur so vor Begeisterung. Es war einer dieser seltenen Abende der reinen Freude für alle, voller Licht in der dunklen Jahreszeit und in einer nicht enden wollenden Pandemie.
Tripp „reist durch das ganze Land und begegnet den Menschen. Sie spricht mit ihnen durch ihre Puppen“, sagt Sigmount Königsberg, Antisemitismus-Beauftragter der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. „Ich krümme mich oft vor Lachen, wenn ich ihre Shows sehe ... Lachen mit Respekt und Liebe“, ergänzt er. „Ich denke ständig darüber nach, wie man Vorurteile am besten bekämpft. Wenn es gelingt, das Interesse von Kindern zu wecken, ist das ein erster wichtiger Schritt.“
Osman Örs, Imam und Theologischer Referent an Berlins neuem interreligiösem House of One, sieht das genauso: „Je früher wir beginnen, desto besser.“ Seine eigene siebenjährige Tochter freundete sich vor einigen Jahren über eine Bubales-Aufführung mit einem jüdischen Kind an. „Sie und ihre Freundin erkannten sich in den jüdischen und muslimischen Figuren wieder“, erklärt er. „Wenn Kinder ohne solche Erfahrungen und Kompetenzen zu Jugendlichen heranwachsen und später Erwachsene werden, bleiben sie viel eher unwissend und sind anfälliger für Vorurteile.“
Puppen, Pädagogik und Familien-DNA
Die Hauptbotschaften, die von Bubales ausgehen, sind Freude, Freundschaft und Austausch. Dabei werden Stereotype auf spielerische und entwaffnende Weise entlarvt. Der kulturelle Mix spiegelt gleichzeitig auch den vielfältigen Hintergrund von Tripp selbst wider.
Shlomit Tripp (51) wurde in Berlin als Tochter jüdisch-sefardischer Eltern aus Istanbul geboren, ihre Großeltern waren aus Griechenland in die Türkei immigriert. Ihre Jugend war von zahlreichen Ortswechseln geprägt: So hat sie mit ihren Eltern, die beide im Journalismus tätig waren, in Prag, Moskau und anderen osteuropäischen Städten gelebt. Ihren zukünftigen Ehemann, Gershom Tripp aus den USA, lernte sie in der Türkei kennen. Heute arbeiten sie gemeinsam an dem Puppentheater.
„All diese verschiedenen Kulturen haben mich stark beeinflusst“, sagt Shlomit Tripp. „Seit drei Generationen hat jede Generation meiner Familie Migrationserfahrung. Das steckt fest in unserer DNA. Deshalb kenne ich die Perspektive von Migrant*innen natürlich auch sehr gut.“
Auch das Puppentheater ist Teil ihrer DNA. Tripp erkannte während ihres Studiums der Kunstpädagogik in Berlin, dass das Puppentheater ein sehr gutes didaktisches Medium ist – und es ist eines, das ihr quasi schon in die Wiege gelegt wurde: Ihre Großmutter mütterlicherseits hatte mit Schattentheater-Aufführungen in einem Zelt auf einem Istanbul Marktplatz zum Lebensunterhalt der achtköpfigen Familie beigetragen, um ihren Ehemann, einen „armen Shochit“ (koscherer Schlachter), zu unterstützen.
Und auch Tripps Mutter betätigte sich später als Puppenspielerin, mit handgefertigten Stabpuppen mit Gipsköpfen – eine Technik, die Shlomit Tripp seit Kurzem ebenfalls einsetzt.
„Ich bin die dritte Generation von Frauen in meiner Familie, die mit Puppen spielt“, lacht Tripp, die ihre ersten Puppen noch gemeinsam mit ihrer inzwischen verstorbenen Mutter herstellte, unter anderem für ein Chanukka-Stück im Jüdischen Museum in Berlin im Jahr 2008. „Die Vorstellung war restlos ausverkauft. Da wusste ich, dass ich dieses Konzept weiterführen musste.“
Zunächst dachte sie dabei nur an jüdische Kinder, um sie in ihrer jüdischen Identität zu bestärken. „Überall gibt es deutsche Puppentheater, in denen es um Weihnachten und so geht. Ich dachte, es ist einfach wichtig, dass die jüdischen Kinder auch ihr eigenes Puppentheater haben. Was mich erstaunt hat, war, dass plötzlich so viele nichtjüdische Organisationen an unsere Tür geklopft und gesagt haben: ,Wir wollen das auch sehen!‘“
Das Konzept wurde weiterentwickelt, die Stücke sollten auch ein Publikum ohne Vorkenntnisse über das Judentum ansprechen – und Menschen, die zunächst einmal kein Interesse an dem Thema hatten. Manche Familien mit Migrationshintergrund – türkisch, arabisch, muslimisch –, die zu den Veranstaltungen kamen, fragten: „Warum muss ich mir jüdisches Puppentheater angucken?“, erinnert sich Tripp. „Aber wenn dann eine türkische, eine muslimische Puppe dabei ist, werden die Kinder wach: ,Moment mal, da ist etwas von meiner Kultur mit dabei.‘ Es findet eigentlich ein Empowerment in einem Empowerment statt. So habe ich einfach die Brücke gebaut.“
Auch jüdische Zuschauer*innen sind manchmal irritiert und stellen Tripp bis heute Fragen wie: „Das Stück war super, aber warum musste diese muslimische Puppe dabei sein?“ Es sind gerade solche Fragen, die Tripp in ihrer Arbeit motivieren.
Lernen und Spaß mit Selfies
Das 2012 gegründete Bubales gilt als ältestes jüdisches Puppentheater Deutschlands. Die Puppen wirken auf viele irgendwie vertraut: „Jim Henson ist mein Guru“, sagt Tripp und meint den Gründer der Sesamstraße mit dem weltberühmten Puppen-Ensemble. Trotzdem hat jede einzelne von Tripps Figuren ihre ganz eigene Gestalt und Persönlichkeit.
Hinter der One-Woman-Show steht ein Team, das Tripp tatkräftig unterstützt, allen voran ihr Ehemann Gershom Tripp, der sich um alles Technische kümmert. Weitere Unterstützung kommt beispielsweise von Musiker*innen, die vorab Lieder aufnehmen, die während der Vorstellungen eingespielt werden.
Egal ob live oder im Video: Bubales vermittelt auf unterhaltsame Weise jüdische Gebräuche und Feiertage und trägt so zur interkulturellen Verständigung bei. Auch beim Zentralrat der Juden in Deutschland fand das Puppentheater schnell Anklang.
Nach den Vorstellungen spricht Tripp mit den Zuschauer*innen und lässt sie Selfies mit den Puppen machen: „Das ist etwas, das sie nicht vergessen.“
Tripp hat inzwischen ihr Spektrum erweitert: Sie hat Kinderbücher zu interkulturellen und jüdischen Themen herausgebracht, war an Schulprojekten gegen Antisemitismus und Rassismus beteiligt, hat Kinderprogramme für das Jüdische Museum Berlin entwickelt und ist dort seit 2018 Leiterin der interkulturellen Community-Programme.
2021 produzierte sie eine Bubales-Video-Serie für den Verein „321.2021: 1700 Jüdisches Leben in Deutschland e.V.“, der das Festjahr mit mehr als 2.000 Veranstaltungen beging. In der Serie reisen Tripps Puppen in einer „Schalömchen-Bahn“ durch eine animierte Landschaft. In der aktuellsten Episode nimmt ein krausbärtiger Rabbi Blumenberg das Publikum mit zur „Chanukka“-Haltestelle und erklärt das Fest auf humorvolle und einfache Weise. Video anschauen.
Darin beschreibt beispielsweise eine wunderbar phantasievoll gestaltete singende Menora mit bezaubernden Augen das Chanukka-Wunder, und ein Puppenkinderchor singt ein Lied darüber.
„Der Grundgedanke war, Erwachsenen die jüdischen Feiertage über ein Puppentheater für Kinder nahezubringen“, erklärt Andrei Kovacs, Leitender Geschäftsführer des Vereins „321.2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland e.V.“, Cheforganisator des Festjahres #2021JLID und ehemaliger Kommilitone von Tripp an der Kunsthochschule. Er beschreibt sich selbst als „Freund und Fan.“
Tripp überbrückt nicht nur kulturelle Gräben mit ihrer Kunst. „Sie lebt dies auch“, so Kovacs. „Sie ist eine multiethnische und multiidentitäre Person und als solche die ideale Person für diese Aufgabe ... und sie hat sie in phantastischer Weise gelöst.“ Er sieht Tripp „als wichtigen Teil einer neuen jüdischen Szene in Deutschland.“
„Es liegen 76 Jahre sehr schwieriger Beziehungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen hinter uns“, erklärt Kovacs. Aber „wir hören von vielen Menschen, dass sie zunehmend den Mut finden, jüdisches Leben in der Öffentlichkeit zu zeigen. Shlomit ist Teil dieser Bemühungen.“
„Die Wirkung ist klar“, ist Osman Örs überzeugt. Er selbst begegnete erst mit Ende 20, nach seinem Studium, erstmals jüdischen Menschen, „aber meine Tochter hat heute schon eine jüdische Freundin und Kontakt zum jüdischen Glauben. Und das ist eine Bereicherung.“
„Ich kann 1.000 Reden im Jahr halten [über die Bekämpfung des Antisemitismus], aber wer hört sie?“, fragt Sigmount Königsberg. Auf der anderen Seite „sagte mir vor ein paar Tagen eine heute um die 20 Jahre alte Frau: ,Ich wusste nicht viel über das Judentum, aber ich erinnere mich an die ,Koscher-Maschine‘‘ – ein Stück, das Tripp vor 10 Jahren veröffentlichte.“
Mehrere neue Projekte sind derzeit in Arbeit, von einer interkulturellen Familien-Kochshow bis hin zu einem deutsch-türkischen Bubales-Puppentheater.
Bubales-Produktionen sind heute so bekannt und beliebt, dass sie auch andere Initiativen inspirieren. Vor kurzem hat Tripp die Stiftung „Islam in Deutschland“ zum Aufbau ihres neuen Puppentheaters beraten, das zwischenzeitlich schon an deutschen Schulen aufgetreten ist. Solche Erfahrungen bestärken sie in ihrer Arbeit und helfen ihr, aus anderer Perspektive auf die dunkle Geschichte Deutschlands zu blicken.
Auf ihren Reisen mit dem Puppentheater begegnen ihr häufig Menschen, denen zum Thema Judentum ausschließlich der örtliche jüdische Friedhof einfällt.
„Ich habe manchmal das Gefühl, ein Land zu bereisen, das gepflastert ist von jüdischen Friedhöfen“, erzählt Tripp. „Das allein zeigt mir, wie wichtig es ist, dass diese Menschen lebendiges Judentum erleben. Ich kann ja leider nicht echte Juden in meinen Koffer packen, also bringe ich 20 jüdische Puppen mit.“ So erleben die Kinder einen positiven Erstkontakt mit dem Judentum. „Sie sehen erstmal eine schöne Kultur. Später können sie sich mit dem Holocaust beschäftigen.“
— Obermayer Award 2022
(Deutsche Übersetzung: Heike Kähler)
THIS WALL BRINGS PEOPLE TOGETHER
Students at this Berlin elementary school, built on the site of a synagogue, have been building a wall for the past two decades. It delivers a powerful message about community.
STUDENTS REACHING STUDENTS
When a handful of ninth graders from Berlin met Rolf Joseph in 2003, they were inspired by his harrowing tales of surviving the Holocaust. So inspired that they wrote a popular book about his life. Today the Joseph Group helps students educate each other on Jewish history.
“I SPEAK FOR THOSE WHO CANNOT SPEAK”
Margot Friedländer’s autobiography details her struggles as a Jew hiding in Berlin during World War II. Now 96, she speaks powerfully about the events that shaped her life and their relevance today.