Obermayer Award

„Ich wollte etwas über lebende Jüdinnen und Juden erfahren“

Marion Welsch glaubt an die Macht persönlicher Geschichten, um Menschen zusammenzubringen

Toby Axelrod

Ein Urlaub in Israel im Jahr 2018 öffnete Marion Welsch eine Tür zur Geschichte praktisch vor ihrer Haustür. Sie hatte sich schon lange mit der jüdischen Geschichte vor Ort beschäftigt, und ihre Arbeit dazu hat weite Kreise gezogen. Nun, fernab ihrer Heimat, kam ganz überraschend ein neues Projekt auf sie zu.

Welsch lebt als Dozentin im Ruhestand mit ihrem Mann im südwestlich von Berlin gelegenen Kleinmachnow. Seit Jahren erforscht sie sowohl beruflich als auch ehrenamtlich die jüdische Geschichte vor Ort und bringt jüdische und nicht-jüdische Menschen zusammen, um ihre Lebensgeschichten auszutauschen und Beziehungen aufzubauen. Das Ziel: eine Zukunft zu schaffen, die auf einem Verständnis der Vergangenheit beruht. „Man muss die Menschen immer weiter zusammenbringen, um ihre Geschichten zu erzählen“, sagt sie. 

 Das neueste Kapitel nahm seinen Anfang auf einem Weinberg in Sde Boker, einem Kibbuz in der Negev-Wüste im Süden Israels. Sie und ihr Mann, der Anwalt Hubertus Welsch, waren in einer kleinen Hütte untergebracht. „Daneben stand eine weitere Hütte. Die Frau, die dort übernachtete, hörte uns Deutsch sprechen“, sagt Welsch.

Die Frau war Maya Yuval, die Welsch erklärte, dass sie in einer deutschsprachigen Familie in Haifa aufwuchs, erinnert sich Welsch. „Als wir sie fragten, woher ihre Familie stammt, sagte Maya: „dort, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen: Schenklengsfeld“ in Hessen. Welsch dachte: „Das kann gar nicht sein. Dort kommt meine Mutter her!“

Es war, als hätten sich Freundinnen, die sich lange Zeit nicht gesehen hatten, wiedergefunden. Sie hatten sich viel zu erzählen. Yuval fragte schließlich, ob Welsch helfen könnte, einige Briefe aus der Familie zu entziffern, die in alter deutscher Schrift geschrieben waren. Diese Briefe sollten zum Kern von Welschs zweitem Buch werden: „Eine Waschmaschine in Haifa“. Sie zeichnet darin nach, wie eine jüdische Familie aus Deutschland entkommen ist, und ihre komplizierte Beziehung zu ihren früheren Nachbar*innen nach dem Krieg.

Für Yuval eröffnete diese Begegnung einen neuen Blick auf ihre eigene Familiengeschichte. „Ich habe von [Marion] viel gelernt, weil sie die Briefe gelesen hat, die ich nicht lesen konnte“, sagt Yuval, die hofft, das Buch ins Hebräische übersetzen zu lassen. 

Marion Welschs Interesse an der jüdischen Geschichte vor Ort wurde durch ihre Arbeit an einer Biografie ihres Vaters, der Ende des Zweiten Weltkriegs 19 Jahre alt geworden war, geweckt.

„Was hatten die Menschen gegen ihre Nachbar*innen?“

Im Jahr 2001, als Welsch sich um ihren Vater kümmerte, der in einem Altersheim in Ostdeutschland lebte, fragte sie ihn nach seinen Kriegserinnerungen. Daraus entstand das Buch „Sprich mit mir“, das 2005 erschien.

Danach interessierte sich Welsch immer mehr für die deutsch-jüdische Geschichte vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. „Ich dachte, ‚was hatten die Menschen gegen ihre Nachbar*innen‘, die Jüdinnen und Juden?’“ Auf ihrer Suche nach Antworten begann sie, sich mit dem Judentum zu beschäftigen. Sie ging auch in die Synagoge Sukkat Schalom in Berlin, wo der Historiker und Rabbiner Andreas Nachama tätig war. Sie freundeten sich an.

„Ich musste dorthin gehen, wo die Jüdinnen und Juden waren, weil sie nicht zu mir gekommen sind“, witzelt sie. „Ich wollte etwas über lebende Jüdinnen und Juden erfahren, nicht über tote. Alle redeten über den Holocaust, und man konnte nicht über diese Mauer hinweg blicken.“

Im Jahre 2004 wurde sie Mitglied der Grupe „Stolpersteine in Kleinmachnow“ unter der Leitung von Martin Bindemann, damals Diakon der Evangelischen Kirche Kleinmachnow. Im Jahre 2008 verlegte die Gruppe zusammen mit Gunter Demnig, einem Künstler aus Köln, der 2005 mit einem Obermayer Award ausgezeichnet wurde, etwa 20 Stolpersteine vor den Häusern, in denen Jüdinnen und Juden einmal in ihrer Stadt gelebt hatten.[[ www.stolpersteine-kleinmachnow.de]]

Als das Thema Stolpersteine in Kleinmachnow ankam, hatte Welsch „bereits vorgearbeitet und präsentierte erste Rechercheergebnisse“, schreibt Bindemann. Sie „bereicherte die Auseinandersetzung und verhalf sowohl der Stolpersteingruppe und damit dem gesamten Thema, sich in der Kleinmachnower Öffentlichkeit positiv zu platzieren.“

Anfangs war es gar nicht einfach, erinnert sich Welsch. Es brauchte Jahre, um die Liste der jüdischen Einwohner*innen von der Volkszählung 1936 vom Gemeindearchiv zu bekommen, wahrscheinlich weil andere Bewohner*innen nicht mit der Nazivergangenheit in Verbindung gebracht werden wollten, vermutet sie.

„Es gab zwar keinen aktiven Widerstand, aber eines stört mich bis heute“, sagt sie. „Die Anwohner*innen sagten, dass die Stolpersteine nicht in der Mitte eines Sandpfades verlegt werden dürften. Sie müssten direkt am Zaun liegen. Und dann deckten sie sie zu, mit Sand und Laub.“

Sie ergänzt, dass manche Menschen, die in diesen Häusern leben, Nachkommen derjenigen sind, die einzogen, als die Jüdinnen und Juden vertrieben worden waren. „Sie haben das Gefühl, dass man glaubt, sie seien Nazis. Das stimmt nicht; das ist eine andere Generation.“

„Da blieb kein Auge trocken...“

 Im Jahr 2009 trat sie eine Stelle als Leiterin der neu gegründeten Begegnungsstätte Schloss Gollwitz in Brandenburg/Havel an, wo Begegnungen jüdischer und nichtjüdischer Menschen stattfinden. In dieser Funktion ist sie häufig nach Israel gereist, um ehemalige Gäste von Schloss Gollwitz wiederzutreffen und ihre Kinder und Enkelkinder kennenzulernen. 

Im Jahr 2013 hat sie in Zusammenarbeit mit der Stiftung AMCHA Jerusalem, die psychosoziale Unterstützung für Holocaustüberlebende anbietet, eine Großeltern-Enkel-Woche in Gollwitz für nichtjüdische Deutsche und Israelis mit Wurzeln in Deutschland organisiert. Ein zweites solches Treffen fand 2019 statt.

Die Teilnehmer*innen verbrachten gemeinsam Zeit in der Begegnungsstätte, machten Ausflüge und führten Zeitzeug*innengespräche mit Schüler*innen an einer örtlichen Schule durch. Manche Enkelkinder sagten, sie hätten dabei zum ersten Mal die Geschichten ihrer Großeltern gehört. Welsch sagte, es habe sie überrascht zu erfahren, dass – wie in den deutschen Familien, die sie kannte – auch nicht alle israelische Großeltern ihren Kindern und Enkelkindern ihre eigene Geschichte erzählten. 

Die erste Herausforderung für das Treffen war, den Menschen zu helfen, sich zu entspannen. Ein Großvater aus Israel, George Shefi, beschrieb die Atmosphäre beim ersten Treffen als „korrekt, aber recht steif“.

„Ich persönlich hatte einige Vorbehalte, da es für mich immer noch problematisch war, Deutsche zu treffen, die während des Krieges mehr oder weniger erwachsen waren“, merkte Shefi an, der 1931 in Berlin geboren wurde und 1938 mit dem Kindertransport nach England entkommen konnte. 

Das veränderte sich nach und nach, wie Shefi in seinem Empfehlungsschreiben für Welsch für einen Obermayer Award schrieb: „Die Aufgaben, die Marion uns stellte, haben uns langsam einander nähergebracht ... Als wir uns verabschiedeten, blieb kein Auge trocken. Genaugenommen bin ich immer noch mit einigen, die ich kennengelernt habe, in Kontakt.“ Shefi und Rudi Pahnke, der Vorstandsvorsitzende des Vereins Institut Neue Impulse (INI), unterstützten Welsch später bei der Organisation von Gesprächen am runden Tisch mit Zeitzeug*innen in Brandenburger Schulen.

Nachdem sie sich zunächst auf die Geschichte vor ihrer Haustür und die Begegnungen in Gollwitz konzentriert hatte, fand sich Welsch sozusagen in ihrer eigenen Heimatstadt wieder. Es begann 2018 mit dem glücklichen Zufall, dass sie in Israel Maya Yuval und deren Mann Yehuda kennenlernte.

Noch aus diesem Urlaub kontaktierte Welsch Karl Honikel, den 1. Vorsitzenden des Judaica-Museums in Schenklengsfeld. „Er kannte alle Einzelheiten meiner Familie“, erinnert sich Maya. „Er kannte den Stammbaum der Familie und wo sie alle wohnten und wann sie nach Israel gingen. Er wusste alles.“

Welsch reiste ein paar Monate später wieder nach Israel, um die Yuvals zu besuchen. Dieses Mal brachte sie ihre Nichte Luise Reinhard mit, die noch in Schenklengsfeld wohnte und am Buch mitgeholfen hat. „Marion öffnete den Schreibtisch im Haus meiner Eltern und sah all die alten Briefe. Sie fing an, sie zu lesen und hatte die Idee, über meine Familie zu forschen“, sagt Maya.

Die jüdische Familie Katz/Gutmann war im Herbst 1936 aus Nazideutschland geflohen, nachdem sie ihr Unternehmen und ihre Immobilien unter Wert verkaufen mussten, um die Reise zu finanzieren und ein neues Leben zu beginnen. Sie ließen sich in Haifa nieder, damals in Palästina unter britischer Mandatsverwaltung. 

Die 14 Briefe aus dem Zeitraum Oktober 1946 bis Dezember 1949 geben einen kleinen Einblick in die Schwierigkeiten der Restitution nach dem Krieg. 

Der Titel des Buchs stammt aus dem ersten Brief der Serie: Mayas Onkel schrieb an den neuen Eigentümer des Kaufhauses der Familie und fragte, ob das Geschäft Ersatzteile für eine Waschmaschine, die er auf der Flucht mitgenommen hatte, habe. Der Mann sagte, er sei pleite und könne nicht helfen. Aber er bat ihn dennoch um ein offizielles Empfehlungsschreiben, das er zur Vorlage beim amerikanischen Militär brauchte, um das Kaufhaus wiedereröffnen zu dürfen. Mayas Onkel weigerte sich, einen solchen Brief zu schreiben.

„Als wir im September 2022 da waren und Marion diese Geschichte erzählte, haben die Menschen im Dorf alle darüber gelacht, dass der Mann pleite gewesen sein soll“, sagt Yehuda Yuval. „Sie wussten, dass das nicht stimmte.“

„Es war für ihn und unsere Familie eine schwierige Situation“, ergänzt Maya. „Alle taten, was sie konnten, um zu überleben. Ich bin froh, dass dieser Mann das Haus gekauft hat und dass meine Mutter dadurch in der Lage war, die ganze Familie nach Israel mitzunehmen. Wir haben überlebt, und unsere Familie existiert weiter.“

Indem das Buch, „ein auf Papier gedruckter Gedenkstein“, die Geschichte einer Familie erzählt, wirft es „ein Schlaglicht auf die unmittelbare Nachkriegszeit mit ihrer traurigen Wirklichkeit der sogenannten ‚Wiedergutmachung‘ und ‚Entnazifizierung‘“, schrieb Andreas Nachama in seinem Empfehlungsschreiben für Welsch für einen Obermayer Award. „Es zeigt, dass begangenes Unrecht nicht im Fokus der Akteure in Deutschland stand. … Das Buch ist kein Zufallstreffer einer Autorin, sondern fügt sich ein in ein kontinuierliches Engagement für deutsch-jüdische Beziehungen und persönliche Begegnungen.“

„Ich wollte mehr darüber erfahren, wie Menschen denken, die auf der anderen Seite unserer Geschichte stehen“, sagt Welsch. „Alle haben ihre eigene Geschichte: ‚die Juden‘ oder ‚die Deutschen‘ gibt es nicht. Wenn wir mit Vorurteilen konfrontiert wurden, sagte mein Vater immer: ‚ja, oh ja, alle roten Autos kommen aus Düsseldorf.‘“

Auch im Ruhestand kann Welsch der Versuchung eines neuen Projekts offensichtlich nicht widerstehen. Schließlich ist dieses ihr praktisch in den Schoß gefallen. Und sie ist weiterhin daran interessiert, die Geschichten deutscher Jüdinnen und Juden zu erzählen. „Ich weiß nicht, was ich als Nächstes machen werde“, sagt sie. „Aber irgendetwas wird schon des Weges kommen.“

— Obermayer Award 2023

 
 

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