Obermayer Award

„Ich habe gesehen: es gibt eine Notwendigkeit zu handeln, wir ... müssen das Staffelholz weitergeben.“

Margit Sachse regt Schüler*innen in ganz Europa zur Erinnerungsarbeit an


Toby Axelrod

Margit Sachse ist in einem Wettlauf gegen die Zeit, einem Wettlauf gegen das Vergessen.

Als Pädagogin und Aktivistin für das Gedenken an den Holocaust hat sie das Staffelholz von Augenzeug*innen angenommen und reicht es an ihre Schüler*innen weiter. „Ich bin Vermittlerin“, sagt sie.

Margit Sachse kam 1969 in Köln-Porz zur Welt. Im Jahr 2000 zog sie nach Darmstadt, und heute ist sie Oberstudienrätin an der Lichtenbergschule Darmstadt, einem als Europaschule zertifizierten Gymnasium, das auf internationalen Austausch setzt. Seit gut 18 Jahren ist sie dort u.a. als Deutsch- und Geschichtslehrerin und Museumspädagogin tätig. Im Schuljahr 2023-2024 ist sie als Gastlehrerin an der Cité Scolaire International (Internationales Gymnasium) in Lyon/Frankreich tätig.

Ihre langjährige Arbeit hat eine Generation Schüler*innen empowert, durch direkte Begegnungen mit Zeug*innen, Überlebenden, Wissenschaftler*innen und historischen Dokumenten sich selbstständig über die Geschichte zu informieren – nicht nur in Darmstadt, sondern auch international. Ihr Ziel ist, demokratische Werte zu vermitteln und den Kampf gegen alle Formen der Diskriminierung weiterzuführen.

Von 2018 bis 2021 hat sie die Entwicklung einer pädagogischen App für das Europaschulen-Netzwerk namens „Europäisches Kulturerbe. Aktives Erinnern“ vorangetrieben.

Die Idee hinter der App ist, in ganz Europa Erinnerungsprojekte zu teilen, sagt sie: „Was ist denn schon da an guten Projekten, in Frankreich und in Deutschland und in Griechenland? Was können wir voneinander lernen?“

Sachse hat zahllose Schüler*innen als Guides für Museen und Archive ausgebildet und starke Beziehungen zwischen ihrer Schule und anderen Bildungseinrichtungen aufgebaut, u.a. dem Hessischen Landesmuseum Darmstadt, der Cité Scolaire International und der Universität zu Köln.  

Eins der erstaunlichen Projekte, die ihre Schüler*innen realisiert haben, ist das Fernrohr in die Vergangenheit. Ein dauerhaft installiertes Fernrohr ermöglicht einen Blick auf eine virtuelle Rekonstruktion der Synagoge in der Bleichstraße in Darmstadt, die im „Kristallnacht“-Pogrom im November 1938 zerstört wurde. Ein QR-Code führt zur „Footprints for Freedom“-App, die die Lichtenberg-Schüler*innen gemeinsam mit der Technischen Universität Darmstadt erstellten. Die App gibt Informationen über Jüdinnen und Juden aus Darmstadt, die im Holocaust deportiert und ermordet wurden sowie über Erinnerungsarbeit von teilnehmenden Schulen, Denkmälern, Künstler*innen und Medienschaffenden in ganz Deutschland.

Wir können zusammen viel schaffen ... Manchmal muss man nur die richtigen Weichen stellen.
— Margit Sachse

Sachses internationale Arbeit hat sie auch zum Holocaust-Denkmal in Paris geführt, wo sie Schüler*innen als Guides für das Denkmal im Konzentrationslager Gurs im südwestlichen Frankreich ausbildete. Sie hat auch für die Berliner Initiative Respekt für Griechenland, die von Obermayer-Preisträgerin Hilde Schramm gegründet wurde, einen Austausch für Lehrer*innen in Athen und Deutschland organisiert. Weitere Programme mit Griechenland, Kroatien und Polen sind in Planung. Dabei geht es um die Rettung jüdischer Kinder – von denen die meisten als Geflüchtete aus anderen Teilen Europas nach Frankreich gekommen waren – durch französische Dorfbewohner*innen. Der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel zufolge wurden etwa 7.000 jüdische Kinder in Frankreich gerettet.

Ihre vielfältigen Aktivitäten haben alle einen klaren gemeinsamen Fokus: „Ich habe gesehen: es gibt eine Notwendigkeit zu handeln. Wir, die ältere Generation, müssen das Staffelholz weitergeben“, sagt sie.

Eine neue Art zu lernen 

In ihrer eigenen Familie hat die ältere Generation nicht viel erzählt. Erst als ihr Vater auf dem Sterbebett lag, hat er über einiges von dem gesprochen, was er über die Tätigkeit seines Vaters während des Zweiten Weltkriegs bei der Reichsbahn in Köln wusste.

Ironischerweise war es von ihrem Vater, dass sie erfahren hat, wie wichtig es ist, sich der Vergangenheit zu stellen. Er war Jahrgang 1937 und während der Nazi-Zeit ein Kind. Als junger Mann reiste er dienstlich durch ganz Europa. „Er hat uns immer vorgeschwärmt, wie warmherzig er überall aufgenommen wurde, obwohl er nicht viele Sprachen konnte“, sagt Sachse. „Das hat ihn sehr nachdenklich gestimmt.“ 

In Deutschland waren die Einstellungen gegenüber sogenannten Gastarbeiter*innen aus dem Ausland gewiss nicht warmherzig. „Er hat immer gesagt, da fehlt etwas. Also wir müssen uns damit auseinandersetzen, was die deutsche Wehrmacht da gemacht hat. Das wusste er alles nicht von seiner Familie; er hat es an anderen Stellen erfahren“, sagt sie. 


„Das hat er mir sehr stark vermittelt. Mit der Zeit habe ich dann verstanden, dass es viele Denkverbote gibt und dass wir aber doch Stück für Stück da dran arbeiten müssen. Einerseits sagte mein Vater, ‚es ist gut, was du tust‘ und andererseits hat er bestimmte Dokumente doch nicht geteilt oder hat sie versteckt oder weggeräumt, weggeworfen.“

Ihr wurde klar, dass es in praktisch jeder nichtjüdischen Familie in Deutschland diese, wie sie sagt, „dunklen Flecken oder auch Geheimnisse“ gibt. Die Frage war: wie kann man das am besten aufdecken und aus der Vergangenheit lernen?

Mitte der 1980er Jahre öffnete ein Lehrer die Tür zu einer neuen Art zu lernen. Das hat Sachse nachhaltig geprägt. Pastor Werner Ohrmann hat seine Schüler*innen angeregt, in der Nachbargemeinde den türkischstämmigen Kindern bei den Hausaufgaben zu helfen. Sachse fuhr jede Woche mit dem Fahrrad hin und erlebte, dass „Peer Education sehr viel bewirken kann“, und zwar auf beiden Seiten. 



Alle diese Kinder haben den Schulabschluss geschafft, und manche haben dann studiert. Dort hat sie erfahren: „Wir können zusammen viel schaffen ... Manchmal muss man nur die richtigen Weichen stellen.“

Von ihrem Geschichtslehrer Bernd Moritz hat sie etwas anderes gelernt. Er hat im Unterricht Rollenspiele gemacht, um die Schüler*innen anzuregen, ihre eigene Empathie zu erkennen. Er fragte beispielsweise: „Wie verhaltet ihr euch, wenn Leute jetzt rechtsradikale Positionen am Stammtisch rüberbringen? Was habt ihr für Möglichkeiten?“ Oder: „Wie würden wir uns verhalten, wenn plötzlich jemand gejagt wird von der Gestapo und unterschlüpfen will? Wie verhalten wir uns als Beobachter?“

„Das hat uns spüren lassen, wie schwierig das ist, die richtigen Worte zu finden“, sagt Sachse.

Im Studium hat der Historiker Wolfgang Schieder sie tief geprägt. Er forderte seine Studierenden immer auf zu versuchen, die Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Es ging darum: „dass man nicht einfach bei der deutschen Geschichte bleiben kann; man muss immer vergleichen“, sagt sie. Sachse hatte dank eines Austauschprogramms in Frankreich studiert und fand deshalb die Europaschule attraktiv.

Wie ihre eigenen Lehrer*innen hat Sachse ihre Schüler*innen an Zeitzeug*innen herangeführt. 2005 fing sie an, mit ihnen Forschungsprojekte zu der Kulturgeschichte und der Erinnerung an den Holocaust durchzuführen, mit Schwerpunkt Peer Education. Dieser Ansatz trug 2011 Früchte mit einem Anne-Frank-Tag, an dem Schüler*innen Besucher*innen durch eine Ausstellung über die junge Tagebuchschreiberin, die im Holocaust ermordet wurde, führten. 

Sachse hat zudem eine Anthologie von Aufsätzen von Schüler*innen mit dem Titel „Anne Frank – ein Thema für heute?“ mit herausgegeben.   

Professionelle Guides haben die Schüler*innen-Guides auf ihre Aufgabe vorbereitet und viele Exponate im Vorhinein mit ihnen besprochen, sagt die ehemalige Schülerin Ada Seelinger. Bei der Ausstellungseröffnung „haben wir Teile des Tagebuchs der Anne Frank, die uns am meisten berührt haben“, vorgelesen, sagt Seelinger, die in Amsterdam geboren ist, wo die Familie Frank im Versteck lebte. Sachse hatte Seelinger vorgeschlagen, über ihren Besuch im Anne-Frank-Haus zu erzählen. Das war typisch für die Art und Weise, wie Sachse die persönlichen Erfahrungen ihrer Schüler*innen in ihren Unterricht integrierte.

Manche Menschen vor Ort fanden die intensive Beschäftigung mit der Geschichte nicht gut, erinnert sich Sachse. „Viele Leute meinten, das ist jetzt irgendwie schon vorbei, wir müssen uns damit nicht mehr beschäftigen. Ich dachte, das kann nicht sein. Solange es Menschen gibt, die darüber reden wollen, ist es für uns ein Thema.“

Damals wurde sie vom Verein Gegen Vergessen – Für Demokratie unterstützt. Er wurde 1993 als Reaktion auf rassistische und ausländerfeindliche Ausschreitungen in Deutschland nach der Vereinigung gegründet. Sachse und ihre Schüler*innen initiierten ihre eigene Gruppe, Schüler gegen Vergessen – Für Demokratie.

Begegnungen mit Holocaustüberlebenden haben auf Schüler*innen wie Seelinger tief beeindruckt. Sie traf den verstorbenen Leslie Schwartz, der aus den USA nach Darmstadt zu Besuch kam. Schüler*innen moderierten die Diskussion, stellten Fragen und zeichneten die Veranstaltung für die Nachwelt auf Video auf. „Meiner Meinung nach“, sagt Seelinger, „ist die Begegnung mit Zeitzeugen extrem wichtig, besonders für junge Menschen, für mich auf jeden Fall.“ Das Treffen machte das Unrecht der Nazis, das abstrakt gewesen war, greifbarer, sagt sie.

Dieses Unrecht zu verstehen, sagt Sachse, führt auf natürliche Weise zu Aktivismus für die Gerechtigkeit. Für sie war es immer wichtig, dass „wir uns gegen Demokratiefeinde überall in der Welt positionieren und diese Jugendlichen gewinnen, dass sie das Wort ergreifen. Und da gehört eben das Eintreten gegen Antisemitismus, gegen Rassismus, aber auch für eine freiheitliche Demokratie dazu.“

Max Mühlhäuser, dessen Tochter bei Sachse Unterricht hatte, war von den Auswirkungen ihrer Arbeit bewegt.

Alle paar Wochen gab es eine neue Aktivität, sagt er: „einen Vortrag an einem historischen Ort, eine Präsentation zur Erinnerung an ein bestimmtes Datum und Ereignis, ein Interview mit einem Zeitzeugen des Holocaust, den Besuch einer Delegation in der Synagoge vor Ort mit einem Vortrag, ein Projekt, um kleine Stelen in der Stadt aufzustellen, die die jüdische und die Holocaust-Geschichte in unserer Stadt erklären, einen ‚Wanderweg‘ zu Denkmälern berührender Ereignisse während der Zeit des Holocaust – die Liste wäre endlos.“

Sachses Herangehensweise hat ihre Schüler*innen erfolgreich dazu gebracht, „über ihre tiefsten Überzeugungen zu reflektieren, die Welt mit aufgeklärten Augen zu sehen und in vielen Fällen ihre Einstellung und ihr Credo für immer zu verändern“, sagt er. 

— Obermayer Award 2024

 
 

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