Obermayer German Jewish History Award
Helmut Gabeli
Haigerloch, Baden-Württemberg
Der Rechtsanwalt Helmut Gabeli zog in die schwäbische Kleinstadt Haigerloch am Rande des Schwarzwalds, als seine Ehefrau 1968 dort eine Lehrerstelle antrat. Als sie nach kurzer Zeit erfuhren, dass der örtliche Supermarkt sich in einer ehemaligen Synagoge befand, waren sie entsetzt:
„Meine Frau und ich beschlossen sofort dort nicht mehr einzukaufen“, erinnert sich Gabeli. „Ich hatte Respekt vor der jüdischen Religion. Es erschien mir unmoralisch, in einem Gebäude einzukaufen, in dem sich einst Juden zum Gebet versammelt hatten.“
Zwanzig Jahre später, aus Anlass des 50. Jahrestages der Reichspogromnacht, war Gabeli Mitbegründer des Gesprächskreises Ehemalige Synagoge Haigerloch. Dank seiner jahrzehntelangen Forschungstätigkeit, seiner Schriften, Vorträge und Führungen ist diese Synagoge heute ein denkmalgeschütztes Gebäude und Museum, in dem sich auch zukünftige Haigerlocher Generationen über die verlorene jüdische Gemeinde informieren können.
Es ist darüber hinaus ein Ort, an den die Nachfahren der Haigerlocher Juden aus aller Welt zurückkehren, dankbar für die Chance, ihre Vergangenheit wiederzuentdecken.
„Ich dachte [anfangs], das Wichtigste wäre für mich die Wiederherstellung der Synagoge. Jahre später merkte ich, dass es der Kontakt zu den Menschen war, zu den Juden aus aller Welt, egal ob sie ihre Wurzeln in Haigerloch haben oder nicht. Dieser Kontakt ist mir so wichtig, dass ich dafür Tag und Nacht arbeiten würde. Die Arbeit ist mein Leben“, erklärt Gabeli.
Gabeli wurde 1944 als Sohn deutschstämmiger Eltern in einem kleinen Dorf bei Budapest geboren (sein Vater war Bauer, seine Mutter stammte aus einer Bergarbeiterfamilie) und wuchs im römisch-katholischen Glauben und mit Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg auf. Seine Mutter hatte als Hausmädchen für einen jüdischen Fabrikanten in der ungarischen Hauptstadt gearbeitet und wurde Zeugin der Deportation der jüdischen Mitbürger. Als sie einmal einer Gruppe Juden, die in der Sommerhitze zum Bahnhof getrieben wurden, Wasser bringen wollte, zwang die ungarische Polizei sie, das Wasser auszuschütten.
Nach dem Krieg zog die Familie zunächst nach Wien und später in die Schwarzwaldregion in Baden-Württemberg. Nach dem zweijährigen Bundeswehrdienst, den Gabeli als Offizier beendete, studierte er an der Universität Tübingen Geschichte und Jura und ließ sich danach als Rechtsanwalt nieder. „Aber meine große Liebe galt immer der Geschichte“, so Gabeli.
„Wenn Sie ein allgemeines Interesse an der jüdischen Geschichte und an der Geschichte des Nationalsozialismus haben, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die zwei Bahnen sich kreuzen“, erklärt er. „Die Frage, warum Millionen von Menschen Hitler folgten, hat mich fast mein ganzes Leben beschäftigt und tut es noch heute. Ich wusste ein bisschen über dieses Kapitel der deutschen Geschichte, und natürlich wusste ich, was die Deutschen den Juden angetan haben. [Aber] es war das Interesse an einer kleinen Stadt, in der es einst eine jüdische Gemeinde gegeben hatte, das mich motivierte.“
Gabeli hat zahlreiche Artikel und Bücher über die Haigerlocher Juden geschrieben: von der faszinierenden Geschichte der jüdischen Viehhändler über die Deportationen während des Krieges, eine Chronik aller jüdischen Mitbürger zwischen 1933 und 1945 bis hin zur Jahrhunderte umspannenden Geschichte der jüdischen Schulen und einer Biographie über Haigerlochs letzten Lehrer an der jüdischen Schule und Rabbinatsverweser Gustav Spier. Er hat zahllosen Familien die Gräber ihrer Vorfahren auf Haigerlochs jüdischem Friedhof gezeigt, Vorträge zur jüdischen Geschichte an der Universität Tübingen gehalten und um die 400 Führungen durch die Stadt geleitet.
Sein sichtbarstes Vermächtnis ist jedoch das Ergebnis der Arbeit eines ganzen Jahrzehnts: Erhaltung, Kauf und letztlich Umbau der alten Haigerlocher Synagoge zu einem Museum. 1999 sammelte er mit dem aus 10 Personen bestehenden Gesprächskreis, dessen Zweiter Vorsitzender er ist, 200.000 DM, 80% des Kaufpreises.
„Wir traten an den Bürgermeister heran und sagten: ,Hier sind 200.000 DM, bitte legen Sie die fehlenden 50.000 DM dazu und kaufen Sie das Gebäude für die Stadt‘“, erinnert sich Gabeli. Der Bürgermeister stimmte zu, auch wenn viele Mitbürger dem Projekt zunächst skeptisch gegenüberstanden. „Sie sagten: ,Wir sollten die Geschichte ruhen lassen. Das ist so lange her, niemand interessiert sich mehr dafür‘, aber wir antworteten: ,Nein, das muss uns Deutsche interessieren.‘ Als die Synagoge wieder hergestellt und die Ausstellung zu besichtigen war, änderten die Menschen langsam ihre Meinung. Sie zeigten Respekt und sagten, wir hätten das Richtige getan.“
Marv Strasburg aus Seattle, eine Nachfahrin Haigerlocher Juden, sagt zu Gabeli: „Helmuts persönliche Initiative und sein unermüdlicher Einsatz für die Wiederherstellung der Haigerlocher Synagoge hatten und haben weiterhin eine große Wirkung auf alle Nachfahren der Haigerlocher Juden, die zu Besuch kommen, ebenso wie auf die Einwohner der Stadt und insbesondere die jungen Menschen. „Das Museum in der Synagoge und die Gedenktafel [mit den Namen aller aus Haigerloch deportierten Juden] stehen für ,Wir sind uns der Geschichte bewusst, wir fühlen tiefe Reue und großen Respekt, wir erinnern uns und ehren das Gedenken‘.“
Gabelis Forschungsarbeiten zur jüdischen Geschichte reichen vom Mittelalter bis zum Zweiten Weltkrieg, mit einem Schwerpunkt auf der kaum bekannten Geschichte der jüdischen Soldaten in der Wehrmacht.
Außerdem hilft er Schülern bei ihrer Vorbereitung auf das Abitur, indem er Projekte zur jüdischen Geschichte begleitet. „Es ist mir sehr wichtig, mit den jungen Menschen zu arbeiten“, erklärt Gabeli. „Sie sollten die Geschichte verstehen, und sie sollten auch sehen, wie die Menschen mit dieser Geschichte umgehen. Ich zum Beispiel: Ich bin ein Mann, der sich intensiv mit einer Zeit beschäftigt, die niemals zurückkehren wird. Man kann junge Menschen, die ein gewisses Mitgefühl haben, erreichen.“
Gabeli erkennt durchaus an, dass Deutschland – und insbesondere Baden-Württemberg - schon ein gutes Stück Weg zurückgelegt hat. Es ist für ihn ermutigend, wenn sich eine Mehrheit der deutschen Bürger aus allen politischen Parteien aktiv gegen Demonstrationen und wieder aufkeimendes Machtstreben von Neonazis wendet.
Aber er warnt auch: „Ich bin mir nicht sicher, wie es aussähe, wenn die Zeiten in Deutschland sehr schlecht wären. Menschen ohne Arbeit und in schwieriger wirtschaftlicher Lage – da wird das fraglich, und ich bin nicht 100-prozentig überzeugt, dass es nie wieder so kommen könnte. Deshalb müssen wir immer und überall aufmerksam bleiben und dürfen in unserem Bemühen nicht nachlassen.“
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