Obermayer Award

„Die schmerzvollste Zurückweisung ... ist Gleichgültigkeit.“ 

Für Friederike Fechner gab der Kauf eines Hauses den Anstoß zu Recherchen, die zur Wiedervereinigung einer Familie führten und in ihrer Stadt die Erinnerung an die vergessene Geschichte weckten.

1938 gab die deutsch-jüdische Familie Blach ihr Geschäft in Deutschland auf und floh vor der NS-Verfolgung. Achtzig Jahre später versammelten sich mehr als ein Dutzend Nachfahren in der deutschen Botschaft in London, viele von ihnen sahen sich zum ersten Mal.

Der hoch emotionale Anlass, der sie Ende April 2018 dorthin führte – aus Großbritannien, Deutschland und den USA –, war ebenso außergewöhnlich wie ihre Wiedervereinigung: ein bewegender Vortrag von Friederike Fechner, einer professionellen Cellistin und Kulturmanagerin, die in jahrelanger Arbeit die Geschichte der Familie Blach und ihr Leben in der Hansestadt Stralsund recherchiert hatte. Weitere Nachkommen leben heute in Israel und den Niederlanden.

Die Blachs waren über mehrere Generationen in Stralsund ansässig. Sie betrieben einen erfolgreichen Lederwarenhandel in einem beeindruckenden Giebelspeicherhaus aus dem 17. Jahrhundert, das Lager und Geschäft sowie Wohnräume für die Besitzer beherbergte. Die jüdische Gemeinde der Stadt war relativ klein, spielte jedoch vor ihrer Zerstörung durch das NS-Regime eine sehr wichtige Rolle im Wirtschaftsleben der Stadt.

Dank des leidenschaftlichen Engagements, mit dem Friederike Fechner sich der Familiengeschichte der Blachs widmete, stehen die weit verstreut lebenden Nachfahren heute in Kontakt – überglücklich, lebende Verwandte gefunden zu haben, von denen sie lange überhaupt nichts geahnt hatten. Leider musste ein im Sommer 2020 geplantes und mit Freude erwartetes Familientreffen in Stralsund wegen der COVID-19-Pandemie auf 2021 verschoben werden.

Mitinitiatorin der Veranstaltung in der Londoner Botschaft war Gaby Glassman-Simons, eine Londoner Psychologin, deren Mutter zu den wenigen Überlebenden der Familie Blach gehörte. Peter Weishut aus den Niederlanden ist der älteste noch lebende Holocaust-Überlebende der Familie Blach. 

Die ungewöhnliche Reise in die Geschichte dieser Familie und der anderen jüdischen Bürger*innen ihrer Stadt begann für Friederike Fechner vor gut acht Jahren, nachdem sie und ihr Ehemann Martin Fechner das heruntergekommene Anwesen gekauft und sich an die ambitionierte Sanierung gemacht hatten.

Das Ehepaar war 1994 von Hamburg in die Hansestadt an der Ostsee gezogen, geleitet von dem Wunsch, den Aufbau Ost zu unterstützen und einen Beitrag zur Wiederherstellung der Stadt nach der Zerstörung durch das NS-Regime und Jahrzehnten des wirtschaftlichen Niedergangs in der DDR-Zeit zu leisten. Fechner engagierte sich im gesellschaftlichen und kulturellen Leben, gab Konzerte, unterrichtete an der Musikschule und leitete eine Kammerkonzertreihe.

Mit der Tür zum Haus in der Stralsunder Altstadt öffnete sich für Friederike Fechner auch die Tür zur Geschichte der Familie Blach und der jüdischen Gemeinde der Stadt – in einer Weise, die in Stralsund und darüber hinaus, und bei Menschen in aller Welt, eine enorme Wirkung entfalten sollte.

Wiederherstellung und Zusammenführung

Nach dem Fortgang der Blachs verfiel das Gebäude. Fechner erinnert sich, dass es mit dem kaputten Mauerwerk und den mit Brettern vernagelten Fenstern einer Ruine glich. Aber das Ehepaar erkannte dennoch die Chance, dem Gebäude seine ursprüngliche Gestalt und Würde zurückzugeben. Eine Auszeichnung für die besonders gelungene Sanierung im Jahr 2014 gab letztlich den Anstoß zur Erforschung der Geschichte des Anwesens für einen Vortrag anlässlich der Preisverleihung. 

Mithilfe der städtischen Archive fand Fechner heraus, dass das Gebäude von 1880 bis 1934 der Familie Blach gehört hatte, die es unter der NS-Herrschaft verkaufen musste. Besitzer und Eigentümer waren Selma und Julius Blach sowie ihr Sohn Friedrich, der als hochdekorierter preußischer Offizier im Ersten Weltkrieg verwundet worden war. Ihm gelang im Jahr 1937 die Emigration in die USA. Sämtliche Geschwister Friedrich Blachs und zahlreiche weitere Angehörige starben jedoch im Holocaust. 

Je mehr Friederike Fechner über die Blachs herausfand, desto mehr brannte sie dafür, die Familiengeschichte zu verfolgen und herauszufinden, ob es noch lebende Nachfahren gab. In zahllosen Stunden trug sie in ihrer Freizeit und auf eigene Kosten einen wahren Schatz an Archivmaterial zusammen, darunter Geburts- und Todesurkunden, Geschäftsunterlagen und Fotografien. Sie zeichnete ein detailliertes Bild der deutsch-jüdischen Familie, deren Wurzeln in der jüdischen Gemeinde 300 Jahre zurückreichten. Sie dokumentierte ihre Grabstätten und die tragischen Verluste während des Holocaust und sammelte Hinweise zu lebenden Nachfahren der Blachs.

Ein entscheidender Kontakt ergab sich vor fünf Jahren über eine E-Mail an Casey Blake, Dozent und Leiter des Center for American Studies an der Columbia University, nachdem eine Erbenermittlerin, mit der Fechner zufällig bei einer privaten Gelegenheit ins Gespräch kam, die Verbindung zur Familie Blach hergestellt hatte.

„Sind Sie womöglich der Enkelsohn von Friedrich Blach?“, fragte sie Blake. Er antwortete: „Ja“, und Urenkel von Julius Blach. „Meinem Großvater Friedrich und meiner Großmutter Kate gelang es, während der Nazizeit aus Deutschland zu fliehen und sich schließlich mit ihren Kindern in New York niederzulassen“, schrieb er.

Die beiden begannen eine Korrespondenz, die im Laufe der Zeit auch Blakes Schwester Christina Blake Oliver und schließlich weitere von Fechner aufgespürte Mitglieder der weitverzweigten Familie Blach einschloss.

„Das war der Anfang eines bemerkenswerten Prozesses der Entdeckung und Wiederentdeckung für meine Familie“, erinnert sich Blake. „Da war dieses Gefühl, als würde eine Hand gereicht, über den Atlantik, über ein Jahrhundert, über Krieg und Leid und Verlust hinweg. Das hatte eine starke emotionale Wirkung auf mich, auf meine Schwester, auf uns alle“, sagt Blake.

Fechner war überwältigt, als Blake antwortete: „Es war so bewegend, und ich dachte sofort, dass das etwas ganz Besonderes war, einen Nachkommen der Familie gefunden zu haben, die hier gelebt hat“, in ihrem Haus.

Als sie sich einige Monate später in New York City trafen, hatte Fechner einiges von dem gesammelten Archivmaterial im Gepäck. Diese Dokumente sehen und anfassen zu können, war zutiefst bewegend für Blake. „Es ist wichtig zu verstehen, dass der Genozid in der NS-Zeit nicht nur Menschen ausgelöscht hat, sondern auch Erinnerungen und Kultur“, sagt er.

Da war dieses Gefühl, als würde eine Hand gereicht … über ein Jahrhundert, über Krieg und Leid und Verlust hinweg.
— Casey Blake
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Blake hat Fechner mit seinen Töchtern in Stralsund besucht – eine Reise, die bleibende Eindrücke hinterlassen hat, wie er erzählt. Er erinnert sich aus seiner Kindheit in New York, dass Großvater und Vater der deutschen Kultur noch sehr verbunden waren, aber kaum über das Leben der Familie vor dem Holocaust sprachen. Das Haus in Stralsund und die Ergebnisse der Erinnerungsarbeit von Friederike Fechner über seine Familie und die jüdische Gemeinde zu sehen, half ihm, einige Rätsel seiner Kindheit zu lösen. 

Auch die 1961 geborene Fechner, deren Großvater im Zweiten Weltkrieg General bei der Wehrmacht gewesen war, hatte in ihrer Jugend wenig Gesprächsbereitschaft in Bezug auf den Krieg erlebt und erfuhr kaum etwas über die jüdischen Opfer des Holocaust. „Sie sprachen nicht darüber“, erinnert sie sich in einem Interview an die Eltern. 

Später, im Rahmen ihres Musikstudiums in Deutschland, der Schweiz und den USA, lernte sie jüdische Musiker*innen kennen. „Während meiner Zeit in Bloomington [an der Jacobs School of Music der Indiana University] besuchte ich in jeder Stadt jüdische Museen. Ich war fasziniert von jüdischen Schriftstellern und dem jüdischen Glauben“, erzählt sie. 

Das enorme Ausmaß des Massenmordes an der jüdischen Bevölkerung während des Holocaust belastete sie sehr.

Erweiterung der Perspektive

Im Laufe der Jahre hat Friederike Fechner aus dieser persönlichen Anteilnahme heraus ihre Perspektive kontinuierlich erweitert, angetrieben von der Erkenntnis, dass es extrem wichtig ist, die Geschichte der jüdischen Bevölkerung von Stralsund einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Binnen weniger Jahre hat sie zahlreiche Gedenkveranstaltungen und Ausstellungen initiiert, um in einer Stadt, in der kaum ein jüdisches Gemeindemitglied den Holocaust überlebte und in der heute allenfalls einige wenige Menschen jüdischen Glaubens leben, ein Bewusstsein für die jüdische Geschichte und Kultur zu schaffen.

Heute sind überall in der Stadt Zeichen jüdischen Lebens aus der Zeit vor dem Holocaust zu sehen, und Stolpersteine erinnern an jüdische Nachbar*innen, die im Holocaust starben. 

Für einen bewegenden „Marsch des Lebens“ zur Erinnerung an den 80. Jahrestag der ersten Deportation von Jüdinnen und Juden aus Stralsund reiste im Februar 2020 Gaby Glassman-Simons aus London an. 

Fechner bringt auch ihre künstlerische Tätigkeit als Cellistin in Gedenkprojekte im In- und Ausland ein, indem sie Werke jüdischer Komponist*innen – darunter auch Holocaust-Opfer – in ihre Programme integriert. Damit tritt sie in Schulen und bei öffentlichen wie privaten Veranstaltungen auf.

Fechner ist Gründerin der „Initiative zur Erinnerung an jüdisches Leben in Stralsund“, die das Gedenken an die jüdische Geschichte mit Programmen zur Bekämpfung von Antisemitismus und Rassismus verknüpft und der jungen Generation auf diese Weise Geschichte zeitgemäß nahebringt.

Hoffnung für die Zukunft schöpft Fechner aus der Arbeit mit den Schulen. So plant eine ihrer Musikschülerinnen, die als Lehrerin tätig ist, mit ihren Schüler*innen 2021 ein Projekt zu jüdischer Musik und Gedichten von Holocaust-Überlebenden. 

Ein weiteres Zukunftsprojekt ist ein Online-Gedenkbuch über die jüdischen Holocaust-Opfer von Stralsund. 

Heute ist das von den Fechners so liebevoll wiederhergestellte und gehütete Gebäude mit seiner pfirsichfarbenen Fassade ein Schmuckstück im Straßenbild, das die Blicke auf sich zieht. Es liegt an einer belebten Straße, umgeben von Cafés, einer Pizzeria und einem Spielzeugladen. Der Schriftzug „Lederhandel Gebr. Blach“ erinnert in originalgetreuen Lettern an die stolze Vergangenheit. Auf Initiative von Friederike Fechner wurden mit Unterstützung der Stadt vor dem Haus Stolpersteine für die Mitglieder der Familie Blach verlegt, die in dem Haus gelebt hatten und im Holocaust starben.  

Am Ende ihres Vortrags in London erklärte Fechner, dass sie oft gefragt werde, warum sie diese Arbeit mache. Neben der starken emotionalen Anteilnahme am Schicksal der ehemaligen Bewohner*innen ihres Hauses in Stralsund, sagt sie, „war meine Intention, ... Verständnis und Freundschaften eine Chance zu geben und damit ein anderes Gesicht von Stralsund, Deutschland und den Deutschen zu vermitteln als jenes, welches ... immer noch wie eine schwere dunkle Wolke über unserem Land schwebt.“ 

„Die schmerzvollste Zurückweisung der vom Holocaust betroffenen Familien ist Gleichgültigkeit.“

 
 

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