Obermayer German Jewish History Award
Ernst Schäll
Laupheim, Baden-Württemberg
Mehr als 20 Jahre lang folgte Ernst Schäll einem ganz eigenen Tagesablauf: Jeden Tag - außer sonntags - führte ihn sein Weg zum Jüdischen Friedhof in Laupheim, wo seine Werkstatt, voll mit Werkzeugen und Grabsteinen in unterschiedlichen Stadien des Verfalls, auf ihn wartete. Dort machte er sich dann mit viel Geschick und Engagement an die Wiederherstellung der Grabsteine, um sie nach 30 bis 70 Stunden sorgfältiger Arbeit wieder an ihren ursprünglichen Gräbern aufzustellen. Wer ihn bei dieser Arbeit beobachten oder unterstützen durfte, der sah, dass Schäll mehr als handwerkliches Talent und künstlerisches Gespür in diese freiwillige Tätigkeit einbrachte:
Er brachte vor allem den Willen mit, sich an die Geschichte der Laupheimer Juden zu erinnern - und dafür zu sorgen, dass auch seine Mitmenschen sie nicht vergessen.
"Es gelang ihm immer wieder, Jüngere für seine Arbeit zu interessieren und sie zur Mitarbeit anzuregen. Er wusste, wie sie am besten zu motivieren waren: nicht durch Worte, sondern durch Taten, durch seine Arbeit", so der Ingenieur Rolf Emmerich, ein langjähriger Weggefährte von Schäll. "Ernst hat sich all seine handwerklichen und künstlerischen Fähigkeiten selbst angeeignet. Er war in seiner Arbeit äußerst professionell - und er hat dazu beigetragen, das Bewusstsein der Menschen in Laupheim wachzurufen."
Auch Schälls eigenes Bewusstsein, geprägt durch das, was er in seiner Kindheit im Zweiten Weltkrieg erleben musste, mag ihn dazu bewogen haben, in den vergangenen Jahrzehnten einen Beitrag zur Bewahrung des Jüdischen Gedenkens zu leisten. Schäll kam als Sohn einer Schneiderfamilie in Laupheim zur Welt, einer kleinen Stadt 100 km südöstlich von Stuttgart, und erinnert sich gut an die engen Kontakte, die sein Vater vor dem Krieg zu jüdischen Kunden und Freunden pflegte - und er weiß auch noch genau, wie es war, als 14-Jähriger den Tag zu erleben, an dem diese jüdischen Familien mit einem Mal verschwanden. "Ich erinnere mich an die Deportation", denkt er zurück. "Sie brachten sie zum Bahnhof und verluden sie dort in die Waggons. Und dann brachten sie sie fort. Ich habe alles gesehen, und es war eine schreckliche Erfahrung, die ich nie vergessen werde."
Schäll, der im März seinen 80. Geburtstag feiert, gründete eine Familie und arbeitete 30 Jahre lang als Mechaniker, bevor er seine Aufmerksamkeit der Erhaltung der jüdischen Vergangenheit in Laupheim widmete. In den frühen 1980er Jahren - zu derselben Zeit, als er anfing, den verfallenen Jüdischen Friedhof zu besuchen und sich durch Bücher und praktische Arbeit das Restaurieren von Grabsteinen zu erschließen - begann Schäll sich auch mit der Geschichtsforschung zu befassen. So brachte er als Co-Autor zusammen mit dem Genealogen John Bergmann ein 600 Seiten starkes Buch heraus: "Der gute Ort. Die Geschichte des Laupheimer jüdischen Friedhofs im Wandel der Zeit", erschienen 1983.
Nach seiner Pensionierung stellten jüdische Familien, die von Laupheim in die USA und andere Länder ausgewandert waren, Schäll die finanziellen Mittel zur Verfügung, um seine Werkstatt mit Geräten und Maschinen auszustatten und die Restaurierungsarbeiten auf dem 244 Jahre alten Friedhof fortzusetzen. Auf diese Weise konnten im Schnitt jedes Jahr acht Grabsteine wiederhergestellt werden. Aber das war noch nicht alles: Schäll schrieb Dutzende von Artikeln und schließlich auch ein Buch mit dem Titel "Friedrich Adler: Leben und Werk" über den anerkannten Laupheimer Künstler und Designer, der 1942 in Auschwitz umgebracht wurde.
Schäll war auch an der Gründung des "Museum für Christen und Juden" im Jahr 2000 beteiligt, und - als zeige all dies nicht schon genug ehrenamtliches Engagement - brachte am Eingang zum Jüdischen Friedhof eine Gedenktafel mit den Namen der 100 Juden aus Laupheim an, die dem Holocaust zum Opfer fielen.
In Anerkennung seiner herausragenden Leistungen wurde Ernst Schäll 1988 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet; eine weitere offizielle Ehrung wurde ihm im Jahr 2000 mit der Stauffer-Medaille zuteil. Aber wichtiger noch als diese Preise war für Schäll in all dieser Zeit wohl die Anerkennung der Familien, die er mit seiner Arbeit berührt hat. "Man spürt nicht nur einen tiefen Sinn für Gerechtigkeit, sondern auch ein Gefühl der Verpflichtung, das von Herzen kommt", so Ann Dorzback, eine gebürtige Ulmerin, die heute in Kentucky lebt. "Ernst Schäll hat unseren Schmerz gefühlt, unser Leid, unseren Verlust und unsere Verletzungen - und er hat die Bedürfnisse gespürt, die daraus erwachsen, dass wir unsere Vorfahren zurücklassen mussten."
Auch wenn Schäll bei der Mehrheit der Laupheimer Bürger Anerkennung für seine Arbeit erfährt, ist er sich doch der Minderheit derer bewusst, die einer intensiven Beschäftigung mit der Vergangenheit ablehnend gegenüberstehen.
"Natürlich gibt es noch immer Menschen, die nichts von ihrer Geschichte wissen wollen und [sogar einige], die leider auch heute noch dem nationalsozialistischen Gedankengut anhängen", so Schäll. Seine Entgegnung: "Deutschland muss sich erinnern. Wir dürfen nie vergessen, was damals geschah. Der Schmerz der Menschen war so groß, dass die Erinnerung daran stets wach gehalten werden muss. Das ist eine sehr wichtige Aufgabe."
Schäll stellte im August 2004 nach einem Schlaganfall seine Arbeiten an den Grabsteinen ein. Nachdem seine Frau im vergangenen Mai einem Krebsleiden erlag und er auf die Hilfe seiner Tochter angewiesen ist, rückt der Gedanke an eine Rückkehr in seine Werkstatt in weite Ferne. Aber Ernst Schäll hat sich auf diesen Tag vorbereitet und über die Jahre einen Assistenten ausgebildet, der Stein für Stein die Arbeit an der Wiederherstellung der Gräber auf dem Jüdischen Friedhof in Laupheim fortsetzen wird.
"Der Friedhof war in einem sehr schlechten Zustand, als ich mit meiner Initiative zur Wiederherstellung der Steine begann", erinnert sich Schäll. Rückblickend weiß er, dass die Jahrzehnte des Schleifens und Feilens und des Modellierens von Steinen mehr waren als ein allgemeiner Beitrag zur Erhaltung des Gedenkens an die Juden in Laupheim: Er hat damit auch sein persönliches, zutiefst empfundenes Bedürfnis erfüllt, ein Vergessen jener Zeit um jeden Preis zu verhindern.
"Ich habe mein Ziel erreicht", sagt er. "Das Wichtigste ist, dass ich mit meiner Arbeit die Erinnerung der Menschen wachgerufen habe."
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