„Wenn sie etwas tun will, dann tut sie es auch.“

Anja Listmann macht mit Leidenschaft und Entschlossenheit auf jüdische Geschichte und jüdisches Leben aufmerksam

Toby Axelrod

Anja Listmann sagt klar und deutlich, was sie denkt und fühlt. Und sie hat in Fulda und darüber hinaus die Herzen vieler Menschen berührt.

Als Lehrerin hat sie zahllose Schüler*innen auf Entdeckungsreise in die jüdische Geschichte der Stadt mitgenommen. Sie hat Kontakte mit Jüdinnen und Juden geknüpft, deren Wurzeln im Fulda der Vorkriegszeit liegen. Und sie hat dazu beigetragen, dass das Schicksal der Jüdinnen und Juden im Holocaust nicht vergessen wird.

Seit Jahren wird Anja Listmann für ihre Aktivitäten respektiert. 

Im Jahr 2021 hat Bürgermeister Heiko Wingenfeld sie zur Beauftragten für jüdisches Leben ernannt, der ersten überhaupt in Fulda. Sie ist damit die erste Ansprechpartnerin, wenn es um historische Themen und aktuelle Herausforderungen geht. Zur Teilzeitstelle gehört ein Büro im historischen jüdischen Gemeindehaus. Immer wenn sie die Treppe zu ihrem Büro hinaufsteigt, denkt sie daran, dass die jüdische Gemeinde bis zu den Deportationen 1942 hier zu Hause war. Sehr wenige Jüdinnen und Juden haben überlebt.

Anja Listmann ist in Fulda geboren und wuchs im benachbarten Bad Salzschlirf auf. Ihr Interesse an der jüdischen Geschichte vor Ort wurde in den 1990er Jahren geweckt, als ein Gast der Pension ihrer Mutter aus heiterem Himmel sagte: „Ich mag keine Juden.“

Damals Anfang 20, spürte Listmann eine starke, sofortige Reaktion. „Als hätte jemand mir auf den Kopf geschlagen“, erinnert sie sich. 

Sie schrieb dann ihre Diplomarbeit über die Jüdinnen und Juden von Bad Salzschlirf. Ihre Großmutter, die sich an ihre früheren jüdischen Nachbar*innen erinnerte, ermutigte sie. Anja Listmann schnappte ihren Kassettenrecorder und interviewte ihre Großmutter und dann deren Freund*innen und Nachbar*innen. „Zunächst waren die Leute nett -- weil ich ‚die süße Anja‘ war.“ Aber später, als ihnen klar wurde, wie ernst es ihr mit dem Thema war, „wurden die Türen zugeschlagen“. 

Als sie dann in Heidelberg studierte, klingelte man bei ihren Eltern und sagte: „Das Mädchen muss damit aufhören. Das ist kein Thema für ein Mädchen. Sie sollte lieber über Brauchtum schreiben“, erinnert sich Listmann. „Wenn meine Eltern zum Fleischer oder zum Bäcker gingen, hielt man sie an, um dasselbe zu sagen: Darüber sollte sie nicht reden oder schreiben.“

Ihr Vater antwortete stets: „Wenn sie etwas tun will, dann tut sie es auch.“

Sie ließ sich von ihrer Arbeit nicht abbringen. „Ich bin so ein Mensch, wenn man mich bedroht, dann funktioniert das nicht“, sagt sie.

Sie schaltete eine Anzeige im Aufbau, einer globalen deutsch-jüdischen Zeitung, um Jüdinnen und Juden mit Wurzeln in Bad Salzschlirf zu suchen. „Und dann kamen die Briefe“, sagt sie. Sie kamen von Menschen, die das Schicksal ihrer Verwandten erfahren wollten. Listmann teilte ihre Erkenntnisse mit ihnen und fing an, Kontakte mit jüdischen Familien in der ganzen Welt zu knüpfen.

Ihre Diplomarbeit wurde 2000 als Buch veröffentlicht: Beinahe vergessen: Jüdisches Leben in Bad Salzschlirf.

Trotz der Bedenken der Menschen in Bad Salzschlirf sagt sie: „Es war nie mein Ziel, Täterinnen und Täter zu beschuldigen. Es ging mir darum, die jüdische Geschichte für die Nachkommen zu bewahren.“ Sie hat sogar den Namen eines verurteilten SS-Verbrechers aus der Stadt verschleiert. Heute ist der Name Herbert Hübner breit bekannt, aber manche Bewohner*innen fragen Listmann immer noch, wie sie den Wikipedia-Artikel über ihn löschen können. Sie sagen: „Das gibt unserem Kurort Bad Salzschlirf eine schlechte Aura.“

„Anja, niemand wird kommen.“

Anja Listmann heiratete 1996 ihren Schulfreund Klaus. Sie leben in der Nähe von Fulda und haben eine Tochter und einen Sohn.  

2001 wurde sie Geschichts- und Deutschlehrerin an der Bardoschule in Fulda. Dann wandte sie sich der Geschichte der Fuldaer Jüdinnen und Juden zu. 

Allmählich lernte sie die heutige jüdische Gemeinde kennen; die meisten Mitglieder sind Emigrant*innen aus der ehemaligen Sowjetunion. „Anfangs waren sie misstrauisch“, sagt sie. Sie bat sie um Unterstützung, Bücher und Dokumente zu finden, und irgendwann sagten sie: „Sie ist in Ordnung.“ 

2011 sprach sie ihren Schuldirektor an der Bardoschule darauf an, ein Schulprojekt zur jüdischen Geschichte vor Ort ins Leben zu rufen. Damals gab es an den Gymnasien solche Projekte, aber an den anderen Schulformen, sagt sie, „war es ihnen egal“. 

Man weint zusammen, man lacht zusammen. Die Schülerinnen und Schüler sind unglaublich. Sie können sich nicht vorstellen, wie ehrgeizig sie sind. Ich bin von ihnen vollkommen begeistert.
— Anja Listmann

Der Schulleiter sagte ihr: „Anja, niemand wird kommen.“

Gekommen sind sie doch, obwohl die Leistungen im Projekt nirgendwo angerechnet wurden. Die 15- und 16-jährigen Schüler*innen kamen wöchentlich für 90 Minuten zusammen. Sie brachte ihnen die Biografien von Jüdinnen und Juden aus Fulda nahe, und sie gingen zusammen durch die Straßen, um herauszufinden, wo diese Menschen gelebt und gearbeitet hatten und zur Schule gegangen waren. 

 Anja Listmann wollte bewirken, dass ihre Schüler*innen den Holocaust auf einer menschlichen Ebene verstehen und erkennen, dass er kein Geschehnis irgendwo in weiter Ferne war. „Es fand hier statt, direkt vor unserer Tür. So konnten sie einen Zugang dazu finden. Und sie sagten [über die Opfer]: ‚Oh, sie war so alt wie ich‘ oder ‚sie sieht aus wie meine Oma‘.“

 Elena Varntoumian, Studentin an der Universität Würzburg, war 2016 in der 8. Klasse von Frau Listmann. „Wenn du das in der Schule, in Büchern liest, hört es sich fiktiv an,“ sagt sie. Anja Listmann machte es viel realer. 

„Wir haben mit den Kindern von Jüdinnen und Juden, die in Fulda gelebt hatten, Interviews geführt“, erinnert sich Elena Varntoumian. Sie sprach mit dem amerikanisch-jüdischen Filmemacher Ethan Bensinger über seine Mutter, die in den 1930er Jahren aus Fulda geflohen war. Varntoumian und Bensinger sind weiter in Kontakt, und er besucht Fulda jedes Jahr. „Ich habe durch dieses Projekt Freunde fürs Leben gefunden“, sagt sie.

Als Anja Listmann mit ihren Schüler*innen für eine Woche nach Auschwitz reiste, wussten sie schon viel über die jüdischen Familien Fuldas. „Sie wussten, was [die Familien] durchgestanden hatten, ob sie überlebt hatten oder ermordet worden waren“, sagt sie. Die Reise hat sie tief berührt und schweißte die Gruppe zusammen. „Man weint zusammen, man lacht zusammen. Die Schülerinnen und Schüler sind unglaublich. Sie können sich nicht vorstellen, wie ehrgeizig sie sind. Ich bin von ihnen vollkommen begeistert.“

„Ich fing einfach an zu zeichnen.“

2019 wechselte Anja Listmann zum Gymnasium Winfriedschule, wo sie ihr Projekt über Jüdinnen und Juden in Fulda weiterführte. 

Während einer Klassenreise nach Auschwitz im Januar 2023 sah sie, wie ihr 17-jähriger Schüler Johannes Matl in seinem Skizzenbuch zeichnete. Er erinnert sich, dass sie vor der Reise immer wieder sagte, „dass wir eine Möglichkeit finden sollten, sie zu dokumentieren, weil es eine Erfahrung ist, die man im Leben nicht oft macht, vielleicht nur einmal. Sie sagte uns, dass wir einen Text oder einen Blogpost schreiben könnten, Fotos aufnehmen oder einen Podcast machen könnten.“

Für Johannes Matl ist Zeichnen schon lange eine Möglichkeit, einen Zugang zu einem Ort zu finden. „Ich habe mich ein bisschen von der Gruppe gelöst und war für mich“, sagt er. „Und ich fing einfach an zu zeichnen.“

Anja Listmann fragte ihn: „Johannes, was machst du da? Das ist fantastisch. Ich möchte eine Ausstellung deiner Zeichnungen machen.“ Das hat sie dann auch getan, mit Arbeiten der Schüler*innen von der Reise. „Wir hatten im Schloss hier in Fulda eine Ausstellung mit ausgewählten Bildern und Geschichten“, sagt sie. „[Die Schülerinnen und Schüler] fingen mit den Bildern und Worten ihre Gefühle ein.“

Das gesamte Projekt war „für mich eine wirklich sehr tiefe Erfahrung“, sagt Johannes Matl. „Vielleicht war es der Anfang unserer speziellen Verbindung.“

Als Bürgermeister Wingenfeld Anja Listmann bat, eine Stadt in Israel als Partnerstadt für Fulda vorzuschlagen, war dies eine neue Gelegenheit, Verbindungen zu knüpfen.

Sie sprach Merav Margolin in Petach Tikwa an. Deren Großvater hatte in den 1920er Jahren einen landwirtschaftlichen Kurs für junge Zionisten in Rodges, einem Stadtteil von Fulda, besucht. Später hat er im damaligen Palästina einen Kibbuz mitbegründet.

Derzeit wird eine Städtepartnerschaft vorbereitet, sagt Merav Margolin, die bei dem Amt für Auslandsbeziehungen in Petach Tikwa arbeitet. In der Zwischenzeit haben sie und Anja Listmann ein Austauschprogramm für Schüler*innen ihrer beiden Städte initiiert. Erst einmal findet der Austausch online statt. „Sie sprechen miteinander und arbeiten zusammen“, sagt Margolin.

Die Schüler*innen aus Fulda sollten während des Schuljahrs 2023-24 nach Petach Tikwa fahren. Die Teenager hatten viele Monate lang über Zoom kommuniziert. Aber dann geschah der Anschlag am 7. Oktober und machte die Pläne zunichte. 

„Alle [israelischen] Schüler*innen bekamen am 7. Oktober eine Nachricht von ihren deutschen Freund*innen, dass sie sich Sorgen um sie machen und [fragten, ob] sie okay sind. Manche sagten, ‚wenn du jetzt zu mir nach Hause kommen möchtest, kannst du kommen.‘ Natürlich konnten sie nicht“, sagt Margolin. „Aber solche Worte der Unterstützung und Liebe zu hören, das bedeutet in diesen Zeiten sehr viel.“

„Okay, dann mache ich das.“

Was Anja Listmann geleistet hat, berührt viele Menschen.

Seit 2017 organisiert sie die jährliche Gedenkveranstaltung des Kristallnacht-Pogroms am 9. November. Sie initiierte die Website „Juden in Fulda“, wo die Arbeiten ihrer Schüler*innen vorgestellt und aktualisiert werden. Sie berät eine neue Kommission, die den historischen jüdischen Friedhof in Fulda restaurieren will. In ihrer Publikation "Der alte jüdische Friedhof – vom Mittelalter bis heute“ dokumentierte sie ihre Forschung zur Lage der Gräber, die heute nicht markiert sind.

2023 organisierte Anja Listmann ein fünf Tage langes Treffen in Fulda von rund 170 ehemaligen jüdischen Bewohner*innen Fuldas und ihren Nachkommen. „Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern wird das Treffen lange in Erinnerung bleiben“, sagt Bürgermeister Wingenfeld.

Die Zeit seit dem Terroranschlag am 7. Oktober ist für Anja Listmann besonders schwierig. „Ich hatte keine Worte, um zu beschreiben, was ich fühlte, meine Gedanken und mein Herz“, sagt sie. „So viele Freundinnen und Freunde wurden verletzt.“

Als sie erfuhr, dass es in Fulda noch kein Konzept gab, am ersten Jahrestag des Anschlags an die Opfer zu erinnern, entschied sie: „Okay, dann mache ich das.“

Sie organisierte eine Mahnwache, an der auch Bürgermeister Wingenfeld, Geistliche aus Fulda und die 26-jährige israelische Studentin Eden Shahar teilnahmen. „Jedenfalls konnten wir überhaupt etwas tun“, sagt sie. „Es verändert die Welt nicht. Es hilft nicht den Geiseln, [aber] wir waren auf dem Hauptplatz von Fulda, und alle, die vorbeigingen, hörten die Namen“ der Opfer, die einer nach dem anderen verlesen wurden.

Nach all den Türen, die ihr 1994 zugeschlagen wurden, wurden ihr viel mehr geöffnet. Sie wendet jedes Hindernis in etwas Positives, sagt sie. „Man sagt ‚nie wieder, nie wieder‘, und dann geschieht der 7. Oktober“, und manche Menschen hatten Angst, an der jährlichen Gedenkveranstaltung an den Kristallnacht-Pogrom teilzunehmen. „Es wurde einsamer.“

Bei der Mahnwache, sagt sie, „gab es wunderbare Momente, als junge Schülerinnen und Schüler, vielleicht acht oder neun Jahre alt, auf mich zu kamen und sagten: ‚darf ich fragen, was Sie da machen?‘

„Und dann gingen sie mit Kerzen nach Hause.“

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