„Die Hoffnung ist immer mit Handeln verbunden.“

Steffen Hänschens unermüdliche Arbeit deckt die Geschichte des Holocaust in Osteuropa auf und bringt Menschen aus Deutschland und Polen zusammen

Toby Axelrod

Steffen Hänschen war schon immer ein ziemlicher Rebell. Als Jugendlicher in den späten 1970er Jahren ging er auf die Straße, als alte SS-Männer in seiner Heimatstadt Köln demonstrierten. Er war Teil der Hausbesetzerbewegung im Deutschland der 1980er Jahre und richtete leer stehende Gebäude her. Und er vertiefte sich in die Nazigeschichte, als das noch nicht weit verbreitet war. Damals war ihm sehr präsent, dass „Täterinnen und Täter überall sind“, aber er wusste sehr wenig über die Geschichte. 

Und so wurde er Aktivist. „Die Hoffnung ist immer mit Handeln verbunden“, sagt Hänschen, 64. Beim Kasseler Bildungswerk Stanisław Hantz mit Schwerpunkt Holocaust ist er seit 2000 ehrenamtlich tätig. Benannt ist das Bildungswerk nach einem polnischen Auschwitz-Überlebenden.


Für Menschen aller Altersgruppen organisiert und leitet er Bildungsreisen zu Orten der Shoah im heutigen Polen, Litauen und der Ukraine, und Überlebende oder ihre Nachkommen reisen häufig mit. Er engagiert sich für das Gedenken an die Shoah in Form der Errichtung und Gestaltung von Gedenkstätten, Tafeln, Steinen und Veranstaltungen sowie für die Erinnerung an die Shoah durch die Unterstützung der Erinnerungs- und Forschungsarbeit von Schüler*innen und Student*innen in Zusammenarbeit mit Schulen.

Zudem tritt er durch Essays und Reden mit der Öffentlichkeit in den Dialog und spricht dabei Vorurteile, Antisemitismus und Holocaustgedenken an.

Seine eingehenden Forschungen, insbesondere zu dem von den Deutschen in Izbica, Polen, eingerichteten Ghetto und den drei Vernichtungslagern der „Aktion Reinhardt“, sind bedeutende Beiträge zur Literatur zu den an den Jüdinnen und Juden Europas begangenen Verbrechen. („Aktion Reinhardt“ war die Bezeichnung der Nationalsozialisten für ihren Plan, die in Polen lebenden Jüdinnen und Juden zu vernichten.) Sein im Jahr 2018 veröffentlichtes 600 Seiten starkes Buch Das Transitghetto Izbica im System des Holocaust: Die Deportationen in den Distrikt Lublin im Frühsommer 1942 fand große Resonanz.

Elke Möller, mit der er im Bildungswerk zusammenarbeitet, hält das Buch für einen „äußerst wichtige[n] Beitrag zum Verständnis der Verbrechen und des grenzenlosen Unrechts, das an der jüdischen Bevölkerung Europas begangen wurde.“

Seine engagierte Arbeit in ... Sobibor, Belzec und anderen Orten hat das Leben vieler Menschen verändert.
— Rena Blatt Smith

Sie führt aus: „Herr Hänschen ist stets bereit, die gewonnenen Erkenntnisse und Einsichten mit anderen zu teilen. Seine Arbeit ist selbstlos, seine Motivation ist der Wunsch, einen Beitrag zur Ehrung der Opfer, zur Bekämpfung des Antisemitismus und aller anderen Formen der Diskriminierung und zur Verhinderung weiterer Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu leisten.“

Steffen Hänschen teilt sein Wissen über die Geschichte, und darüber hinaus bemüht er sich, in Europa Brücken zu schlagen, althergebrachten Vorurteilen gegenüber Osteuropa entgegenzutreten und Teilnehmer*innen an Veranstaltungen des Bildungswerks -- überwiegend Deutsche -- mit Überlebenden und Augenzeug*innen in Kontakt zu bringen.

Es ist schwer vorstellbar, dass Steffen Hänschen noch mehr tun könnte. Neben seiner ehrenamtlichen Arbeit, und bereits ebenso lange, unterrichtet er bei Babylonia in Berlin Deutsch als Fremdsprache. Die Sprachschule richtet auch politische Diskussionen, Kulturveranstaltungen und Ausstellungen aus. Viele, die bei Babylonia Deutsch lernen, sind Geflüchtete.

Sowohl seine berufliche als auch seine ehrenamtliche Tätigkeit sind von seinem Interesse an Geschichte und Sprache geprägt. Er promovierte über polnische Literatur, und als junger Mann dolmetschte er ehrenamtlich für polnisch Besucher*innen der Gedenkstätte Sachsenhausen. 

Über das Bildungswerk hat er zahlreiche Zeitzeug*innen kennenlernen können, und er trägt ihre Erinnerungen weiter. „Für mich, und für uns, war es wichtig, in dieser Erinnerungskultur aktiv zu sein“, sagt er. 

Er betrachtet dies als Berufung und Verantwortung. Der mittlerweile verstorbene Tomasz Blatt sagte ihm einmal: „Die Geschichte wird vergessen werden, wenn niemand mehr da ist, der sie erzählen könnte.“

„In einer Tätergesellschaft leben“

Steffen Hänschen wuchs in einer protestantischen Familie in Köln auf. Damals war die Gesellschaft noch von alten Nationalsozialisten durchsetzt.

„Als junger Mensch war mir klar, dass ich in einer Tätergesellschaft lebe“, sagt er. Seine enge Familie war jedoch dezidiert anti-Nationalsozialisten. Sein Vater wurde wie viele Heranwachsende gegen Ende des Zweiten Weltkriegs mit 16 Jahren in die Wehrmacht eingezogen. Bald konnte er während einer Schlacht gegen die britische Armee in Bremen gemeinsam mit anderen desertieren. Später haben er und seine Frau aus Solidarität mit dem jüdischen Volk ihre Töchter Ruth und Miriam genannt.

Hänschen lebte mehrere Jahre in Amsterdam, bevor er 2000 nach Berlin zog und die Arbeit bei Babylonia und die ehrenamtliche Tätigkeit beim Bildungswerk aufnahm. Für Letzteres organisierte er Studienreisen in die Region Lublin und zu den ehemaligen deutschen Todeslagern Treblinka, Sobibor und Belzec. Später kamen Reisen nach Litauen und in die Ukraine dazu. 

Im Laufe der Jahre hat er Beziehungen zu Augenzeug*innen, Überlebenden und Nachkommen aufgebaut sowie mit Bürgermeister*innen, jüdischen Gemeinden vor Ort und Menschen, die Gedenkarbeit leisten. 

Einer der Zeitzeug*innen war Stanislaw Hantz, der seit 1997 Studienreisen des Bildungswerks nach Auschwitz begleitete. Hantz erzählte, wie das deutsche Militär ihn und andere junge Polen im August 1940 verhaftet hatte. Damals war er erst 17. Sie wurden nach Auschwitz gebracht, wo er als Tischler Zwangsarbeit leisten musste. 35 Monate lang war er Zeuge der schrecklichen Zustände und der Folter im Lager; im April 1945 wurde er von der US-Armee aus dem Konzentrationslager Dachau befreit.

Einige Jahrzehnte danach, erinnert sich Hänschen, und benutzt dabei Hantz‘ Spitznamen, „begann Staszek, sich für die jüdische Geschichte zu interessieren, was für Menschen aus Polen nicht immer so einfach war“.

1982 gründete Hantz die Zgorzelecer Vereinigung ehemaliger KZ-Häftlinge (Zgorzelec ist eine polnische Stadt an der Grenze zu Deutschland) und begann, in Schulen über seine Erinnerungen zu sprechen. Während einer Vortragsreise in Deutschland in den 1990er Jahren lernte er Mitglieder des Bildungswerks kennen, das später nach ihm benannt wurde.

Seit seinem Tod 2008 führt das Team des Bildungswerks seine Arbeit fort und erzählt auf Studienreisen seine Geschichten.

„Die Menschen fühlen sich anerkannt“

„Die Überlebenden waren für uns immer sehr wichtig“, sagt Steffen Hänschen. „Wir haben uns immer bemüht, mit ihnen in Kontakt zu sein und sie in unser Bildungsprogramm zu integrieren.“

Auf einer Reise des Bildungswerks lernte er Tomasz Blatt kennen, der Sobibor überlebt hatte. Blatt war in Izbica, Polen, aufgewachsen und konnte während des Aufstands 1943 aus dem Vernichtungslager fliehen. Nach dem Krieg emigrierte er in die USA. Er schrieb mehrere Memoiren und sprach häufig mit Besucher*innen der Gedenkstätte für das Lager. Blatt starb 2015.

„Er kam immer wieder nach Izbica und Sobibor zurück“, sagt Hänschen. „Wenn wir dort waren, war er zufällig auch da.“ Das Bildungswerk lud ihn dann ein, Deutschland zu besuchen. „Es war ihm sehr, sehr wichtig, dass die Geschichten erzählt werden.“

Heute spricht seine Tochter Rena Blatt Smith auf Einladung des Bildungswerks in Schulen in Izbica. Solche Besuche leisten einen Beitrag dazu, die Erinnerungsarbeit vor Ort zu würdigen, sagt Hänschen. „Die Menschen fühlen sich für ihre Aktivitäten anerkannt.“

„Wir hatten eine Videokonferenz mit Schülerinnen und Schülern an verschiedenen Schulen in Sobibor, wo sie über ihren Vater gesprochen hat und auch über ihre Kindheit.”, sagt Steffen Hänschen. „Unseres Erachtens ist dieser persönliche Zugang wichtig.“

Für Rena Blatt Smith ist er ebenfalls wichtig: Hänschen „gab mir die Möglichkeit, Aspekte meiner Familiengeschichte zu erfahren und zu erleben, die ich vorher nicht kannte“, sagt sie. „[Er] ermöglichte mir, die Erfahrungen meines Vaters als Überlebender des Nazi-Todeslagers in Sobibor mit anderen zu teilen, besonders mit den Schulkindern im Dorf Izbica, wo mein Vater herkam. Seine engagierte Arbeit in vielen weiteren Gedenkprojekten in Sobibor, Belzec und anderen Orten hat das Leben vieler Menschen verändert.“

Solche Begegnungen haben auch Hänschens Leben verändert. „Ich habe Glück, dass ich mit ihnen sprechen konnte“, sagt er. „Das ist ein Privileg, weil ich jetzt anderen Menschen die Geschichten erzählen kann.“

Die Reiseteilnehmer*innen in der letzten Zeit waren zwischen 22 und 70 Jahre alt, und sie hatten unterschiedliche Motivationen. Manche der älteren wollten schon lange eine solche Reise unternehmen, es ist ihnen aber erst im Ruhestand gelungen. Und für manche der jüngeren „ist es Teil ihrer antifaschistischen Arbeit zu lernen, was dort geschehen ist“, erklärt Hänschen. Wieder andere „beschäftigen sich wegen ihrer Familie damit -- entweder von der Täter- oder der Opferseite.“ Andere arbeiten in Museen oder Gedenkstätten.

Die Lehrerin Christa Horn aus Lisberg nahm an einer Bildungsreise nach Lublin teil. Sie hält „die engagierte Arbeit von Herrn Hänschen und vor allem die Weitergabe der Erinnerung an künftige Generationen, die er sowohl in Deutschland als auch in den osteuropäischen Ländern leistet, nicht nur für absolut notwendig, sondern auch für ungemein inspirierend und motivierend.“

Angesichts der aktuellen Popularität mancher rechtsextremen Vorstellungen in Deutschland sind solche Reisen, so Hänschen, wichtiger denn je.

„Die Täterinnen und Täter damals, ich denke, dass sie wie normale Menschen waren“, sagt Hänschen, der kürzlich an der Veröffentlichung des Fotoalbums des SS-Manns Johann Niemann, dem stellvertretenden Kommandeurs von Sobibor, aus der Kriegszeit mitwirkte. (From "Euthanasia" to Sobibor: An SS Officer's Photo Collection) 

Das Album zeigt SS-Männer und ihre Familien „wie sie Spaß haben, Schach spielen, Musik machen. Es sind schwierige Fotos, denn sie zeigen normale Menschen, die normal leben“, sagt Hänschen. „Wenn Menschen ein gutes Leben genießen, dann möchten sie, dass alles bleibt, wie es ist.“ 

Er ist fest davon überzeugt, dass Menschen heute weniger Gefahr laufen, in rechtsextreme Ideologien hineingezogen zu werden, wenn sie „davon erfahren, was dort geschehen ist, und darüber nachdenken.“

— Obermayer Award 2025