Obermayer Award

„Wahrheit macht einen stark.“ 

Dr. Marion Lilienthal geht es darum, die wahre Geschichte zu erzählen – auf Basis umfassender Forschung und mit einem pragmatischen Ansatz zur Geschichtsvermittlung.

Dr. Marion Lilienthal ist schon immer den weniger ausgetretenen Pfaden gefolgt. So entwickelte sie bereits als Schulkind in Kassel ein Interesse für die NS-Zeit, während ihre Klassenkameradinnen noch mit Puppen spielten. Ihre Großeltern, die als Gegner der NSdAP in der NS-Zeit Schikanen ausgesetzt waren, hatten Lilienthals Vater zu einem politisch aktiven Menschen erzogen und ihm vermittelt, dass man sich für Gerechtigkeit einsetzen muss. Diesen Wertekompass gab er an seine Tochter weiter. 

Der Vater hatte die Kriegszeit nur als Kind erlebt, erinnerte sich aber daran, wie Jüdinnen und Juden durch Kassel geführt wurden, vermutlich auf dem Weg zur Deportation. Er sprach auch sehr positiv über eine jüdische Familie, die er gekannt hatte, immer voller Respekt, aber auch mit einer gewissen Traurigkeit angesichts des befürchteten Schicksals. In seiner Tochter weckte dies schon als Kind den Wunsch, herauszufinden, was mit ihnen passiert sein mochte. Das Schicksal der jüdischen Menschen wurde ihr ein persönliches Anliegen, sie wollte Namen und Lebensgeschichten mit den Opfern verbinden.

Über eine Ausstellung zu Juden in Kassel, die sie als Jugendliche konzipierte, lernte Lilienthal die Lehrerin Esther Haß kennen, damals Vorstandsmitglied der jüdischen Gemeinde Kassel. Haß nahm das Mädchen unter ihre Fittiche, und die beiden arbeiteten gemeinsam an vielen Projekten, unter anderem zum Jüdischen Friedhof.

Marion Lilienthal versuchte damals so viel wie möglich über die deutsche NS-Geschichte in Erfahrung zu bringen, stieß aber immer wieder auf Hürden. „Als junger Mensch war es sehr schwierig, an Informationen zu kommen. Und es gab durchaus auch Widerstand in der Öffentlichkeit. Die Archive antworteten nicht immer auf alle meine Fragen, und die Menschen guckten einen komisch an. Viele fanden es befremdlich, wenn sie erfuhren, dass man zu dem Thema recherchierte“, erinnert sie sich.

Zwanzig Jahre später, 1999, trat Marion Lilienthal in Korbach eine Stelle als Gymnasiallehrerin an und hatte sich auf die deutsch-jüdische Geschichte in ihrer Heimatregion Nordhessen spezialisiert. Seitdem wird sie von Kolleg*innen und Schüler*innen nicht nur als Lehrerin hoch geschätzt; sie engagiert sich darüber hinaus in gesellschaftspolitischen Projekten für Jugendliche, junge Erwachsene und Gemeindemitglieder. Ihr Ziel ist es, die jahrhundertelange Geschichte der jüdischen Bevölkerung in der Region wieder ins kollektive Bewusstsein zu rücken, damit die Menschen aus den Fehlern der Vergangenheit lernen, gerade auch im Umgang mit Vorurteilen und Antisemitismus in der heutigen Zeit.

Dr. Lilienthals Wirken reicht jedoch weit über Lehre und Projektaktivitäten hinaus. Ihre persönlichen Bemühungen um die Wiederherstellung der Verbindung zwischen den Familien ehemaliger jüdischer Einwohner*innen von Korbach und der Region haben viele Menschen so tief berührt, dass sie Frieden finden und mit der Vergangenheit abschließen konnten. „Ich habe etwas über das Leben meiner Großeltern und Urgroßeltern erfahren, die ich nie kennen lernen durfte, und über die Geschehnisse, die dazu führten, dass meine Mutter nach Amerika kam. Die Herzlichkeit, die meiner Tochter in Korbach entgegengebracht wurde beim Besuch der Orte, an denen ihre Großmutter, meine Mutter, Zeit verbracht haben muss, ist von unschätzbarem Wert“, sagt Renee Giordano aus New York City. „Obwohl ich Marion Lilienthal nie persönlich getroffen habe, hat sie mein Leben doch stark beeinflusst.“

Dr. Lillienthal sagt: „Die Nazis wollten das jüdische Leben vollständig auslöschen. Ich versuche, diese jüdischen Lebensgeschichten zu erforschen, um die Erinnerung an sie wachzuhalten.“ Das war nicht immer einfach. Sie stützt sich auf Akten aus der Nachkriegszeit und Gespräche mit Einheimischen. „Um an Fotos zu gelangen, bin ich quasi von Tür zu Tür gegangen“, erklärt sie. Vor kurzem erreichte sie ein Zeitzeugenbericht zum Schicksal zweier Brüder aus Korbach. Sie wurde von einer Frau kontaktiert, deren Vater ihr von einer Begegnung mit den Brüdern in Treblinkla erzählt hatte. „Das hat sie sehr stark belastet, sodass sie mich um Hilfe gebeten hat.“

Bei ihrer Arbeit geht es Lilienthal auch darum, Ungenauigkeiten richtigzustellen, auf die sie in Geschichtsbüchern stößt. Ein weiteres Betätigungsfeld sind Führungen in Korbach zur jüdischen Gemeinde vor dem Zweiten Weltkrieg. Sie folgt mit den Teilnehmenden den Spuren ehemaliger jüdischer Nachbarn und zeigt vor den Häusern Archivfotos, während sie etwas über das Schicksal der Familie erzählt, die dort lebte. „Wenn sie das nächste Mal an dem Haus vorbeigehen, haben sie ein Bild im Kopf, was dort passiert ist“, sagt sie.

Verbindungen knüpfen

Als Marion Lilienthal vor 20 Jahren nach Korbach kam, war die Forschungsarbeit als „Newcomerin“ zunächst nicht ganz einfach. „Wenn die Menschen einen nicht kannten, sprachen sie nur ungern mit einem“, erzählt sie. Das Interesse an der Aufarbeitung der NS-Zeit war damals nicht sehr groß. „Man musste tough sein, in sich gefestigt und stark. Bei meinen Nachforschungen erfuhr ich nicht nur Verständnis und Unterstützung, sondern auch Ablehnung, ja sogar Anfeindungen.“

Ihre Ausstellung zum Thema fiskalischer Raub von jüdischem Besitz in Korbach wurde zwar von Bürgermeister und Stadtrat unterstützt, aber viele Korbacher*innen waren dagegen. „Die Leute hatten Angst, dass ein Schatten auf ihre Familie fallen könnte. Selbst heute gibt es noch kritische Briefe und Äußerungen“, sagt sie.

Ihre Dissertation schrieb Dr. Lilienthal vor einigen Jahren zum Thema „Euthanasie“ mit dem Schwerpunkt NS-Verfolgung von kranken, behinderten und „sozial unangepassten” Menschen aus Korbach.

Ihre Aktivitäten, die nahezu ausschließlich ehrenamtlich neben ihrer Lehrertätigkeit stattfinden, sind äußerst vielfältig. Hier nur einige Beispiele: Erinnerungsprojekte und Publikationen zur Vermittlung der jüdischen Geschichte in der Region; Kontakte zu Nachfahren ehemaliger jüdischer Bürger*innen; zahlreiche Projekte und Workshops mit ihren Schüler- und Jugendgruppen, die den Blick der jungen Menschen auf die Lokalgeschichte und die Welt nachhaltig verändert haben; Aufbau von lokalen Netzwerken mit Gleichgesinnten; Engagement in Vereinen und Initiativen zum Themenspektrum Antirassismus, Demokratie und Toleranz.


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Gemeinsam mit etlichen Kolleg*innen, darunter auch mehrere Obermayer-Preisträger*innen vergangener Jahre, hat sie ein Netzwerk von Menschen und Vereinen aus allen Gemeinden des Landkreises aufgebaut, in denen es früher jüdische Gemeinden gab. Das Netzwerk führt Veranstaltungen durch, publiziert Broschüren und Texte zur Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung und fördert das Zusammenleben von Juden und Christen in der Region.

Ihre Bücher und Artikel, die in Bibliotheken, Geschichtsvereinen und anderen Institutionen genutzt werden, haben ebenso wie ihre öffentlichen Ausstellungen einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung von Vorurteilen geleistet. „Mit ihren vielen Publikationen hat sie im Lauf der Jahre bei Menschen aller Altersklassen erreicht, dass die Zeit des Vergessens, Verdrängens und der Verleugnung wesentlicher Teile der regionalen Geschichte überwunden wurde. Sie hat sehr dazu beigetragen, die jahrhundertelange Geschichte der Juden in unserer Region wieder ins Bewusstsein zu bringen, damit die Menschen aus den Fehlentwicklungen der Vergangenheit für die Zukunft lernen können“, schreiben in einem Unterstützungsbrief Ernst und Brigitte Klein, Karl-Heinz Stadtler, Hans-Peter Klein und Johannes Grötecke. Sie alle wurden in früheren Jahren mit dem Obermayer-Award ausgezeichnet und leben in der Region. 

Ihre größte Wirkung entfaltet sie aber wohl in ihrer Arbeit als Lehrerin, durch ihre Projekte zu jüdischem Leben in der Region mit Kolleg*innen und Schüler*innen. 

Viele ehemalige Schüler*innen erinnern sich gerne an Dr. Lilienthals pragmatischen Ansatz zur anschaulichen Vermittlung der Geschichte des Holocaust, um die Jugendlichen für antidemokratische Tendenzen zu sensibilisieren und dagegen aktiv werden zu lassen. „Die Arbeit mit Frau Lilienthal hat mich nachhaltig geprägt“, sagt der ehemalige Schüler Dominic Antony, der sich um die technische Umsetzung ihrer Projekte kümmert. „Auch viele Jahre nach meiner Schulzeit engagiere ich mich weiter im Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus.“

Die jahrelange Arbeit zur Erforschung und Dokumentation der Geschichte deutsch-jüdischer Familien mündete auch in die Dokumentation, Aufarbeitung und Veröffentlichung der Lebenserinnerungen von Zeitzeug*innen. Darüber hinaus pflegt Dr. Lilienthal langjährige Kontakte zu Familien, die in die USA, nach Israel und Australien emigriert sind. 

Vor zehn Jahren hat sie gemeinsam mit ihren Schüler*innen ein Onlineportal eingerichtet, um die Arbeitsergebnisse weltweit zugänglich zu machen. „Ich merke, dass ich Ängste beim Gedanken an die Zukunft ohne Zeitzeugen habe. Ich versuche, möglichst schnell zu arbeiten, so viele Zeitzeugen wie möglich zu kontaktieren und ihre Erfahrungen zu dokumentieren. Ich weiß, es ist ein Kampf gegen die Zeit“, sagt sie.

Das Gedenkportal Korbach bietet umfassende Informationen über Korbach und seine jüdische Gemeinde und die jüdischen Familien, über Täter und Opfer (gedenkportal-korbach.de). Menschen, die keinen direkten Ansprechpartner für ihre Familiengeschichte haben, können hier auf umfangreiche Biografien und Genealogien mit Fotos und Dokumenten zugreifen und so Familienstammbäume rekonstruieren oder Informationen zu Deportationen finden. Die Website bewahrt die Geschichte und Erinnerung an die jüdische Gemeinde, die bis zum Holocaust über hunderte von Jahren in Korbach bestand.

Lilienthal gehörte zu den Ersten in der Region, die die Bedeutung von Onlineangeboten erkannte, insbesondere für die junge Generation. Dank des digitalen Portals steht ihre Arbeit heute weit über die Region hinaus Schulen in aller Welt als leicht zugängliches Lehrmaterial zur Verfügung.

Michael Dimor aus Tel Aviv führte das Gedenkportal Korbach nicht nur zu den Wurzeln seiner Familie mütterlicherseits. Es hat sich darüber hinaus auch eine enge Freundschaft mit Dr. Lilienthal und ihrem Ehemann entwickelt. Dimor wandte sich im Jahr 2011 an sie, auf der Suche nach Informationen über seine Familie. Lilienthal schickte ihm Fotos und Dokumente und organisierte anlässlich des 80. Jahrestags der Reichspogromnacht 2018 einen Besuch der Dimors. Sie nahmen an verschiedenen Veranstaltungen teil, beteten auf dem alten jüdischen Friedhof und sprachen mit Schüler*innen. Eine von ihnen war Marie Fischer. „Für unsere Generation, die diesen Teil der Geschichte nie erlebt hat, ist es heute kaum vorstellbar, was damals Schreckliches passiert ist“, sagt sie.

Marion Lilienthal ist überzeugt, dass ihre Erinnerungsarbeit heute wichtiger denn je ist. „Wahrheit macht einen stark. Umgang mit der Wahrheit ist einfacher als der Umgang mit einer Vermutung. Ich spreche mit meinen Schüler*innen über demokratiefeindliche Strukturen und Motivationsebenen“ für das Handeln von Menschen: „Das kostet viel Energie, gibt einem aber auch unendlich viel Kraft. Bei aller Tragik, die man erfährt, oder Schwierigkeit, auf die man stößt – man geht aus diesen Begegnungen gefestigter hervor.“

 
 

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