Obermayer Award

„Das erste Anliegen war, bei den Menschen ein Bewusstsein zu wecken.“

Katharina Oguntoye verleiht der afro-deutschen Geschichte und Identität eine kraftvolle Stimme


Toby Axelrod

Katharina Oguntoye ist eine Historikerin, die selbst Geschichte geschrieben hat.

Als afro-deutsche Wissenschaftlerin und Aktivistin hat Oguntoye ihre eigene Erfahrung des Othering in eindringliche Lektionen über Identität, Stolz und gegenseitigen Respekt verwandelt. Gemeinsam mit anderen Vorkämpfer*innen hat sie in den 1980er Jahren – den frühen Jahren des Feminismus, der Umweltbewegung und der Empowerment von Minderheiten in Deutschland – Barrieren niedergerissen und der Mainstream-Gesellschaft die Erfahrungen von People of Color nahegebracht. Endlich hatten Mitglieder dieser wichtigen Minderheit eine Gelegenheit, ihre Geschichten zu erzählen, anerkannt zu werden und etwas zu bewirken.

Diese bahnbrechende Arbeit hat immer mehr Deutsche mit afrikanischen Wurzeln empowert, in und für ihre Community aktiv zu werden. Was Oguntoye über Identität und Respekt gelernt hat, hat mittlerweile eine Generation Deutsche und auch Pädagog*innen im In- und Ausland beeinflusst.

Als Tochter einer deutschen Mutter und eines nigerianischen Vaters wurde sie bereits früh damit konfrontiert, was es bedeutet, in Deutschland – wo nur rund ein Prozent der Bevölkerung afrikanischer Herkunft ist – „anders“ auszusehen. 

Katharina Oguntoye wurde 1986 der Öffentlichkeit bekannt dank des bahnbrechenden Buchs mit Interviews mit afro-deutschen Frauen, das sie zusammen mit der verstorbenen Dichterin May Ayim (unter dem Namen May Opitz) bei dem von Dagmar Schultz gegründeten feministischen Orlanda-Verlag veröffentlichte. Das Buch machte in der Wissenschaft wie auch an der Basis Furore, da es einer nicht gehörten Bevölkerungsgruppe eine Stimme verlieh.

Mit diesem Buch half Oguntoye, den Begriff „afro-deutsch“ bekannter zu machen, und Ihr wird zuerkannt, das Bewusstsein für Schwarze deutsche Geschichte und Identität und für das Othering, mit dem Minderheiten im Allgemeinen konfrontiert sind, zu wecken.

„Katharina Oguntoye ist zu einem wichtigen Symbol des Kampfes gegen Rassismus und Diskriminierung geworden“, sagt Dr. Karlos K. Hill, Professor für Afrikanistik und Afroamerikanische Studien an der University of Oklahoma/USA. „Katharina wurde von dem Rassismus, den sie in ihrer Jugend erlebte, bis ins Innerste beeinflusst. Er trieb sie an, ihr Leben in den Dienst des Kampfes gegen Diskriminierung und Hass zu stellen.“

Von Deutschland nach Nigeria und zurück

Katharina Oguntoye lebt heute mit ihrer langjährigen Partnerin, der Autorin und Holocaustforscherin Carolyn Gammon, in Berlin. Ihr Sohn, Noel Olutunde Gammon Oguntoye, studiert an der Freien Universität Berlin Chemie.

Oguntoye ist im Januar 1959 in Zwickau geboren. Sie und ihr jüngerer Bruder Olatokunbo verbrachten ihre ersten Lebensjahre in Leipzig, wo ihre Eltern – Olusola und Edith Storch-Oguntoye – sich kennengelernt hatten, als ihr Vater dort studierte. „Ich mochte Leipzig“, erinnert sich Oguntoye. „Es gab dort eine recht große Community afrikanischer Studierender, und mein Vater engagierte sich dort. Also, das war sehr schön und es gab damals Schwarze Menschen in meinem Leben.“

Sie war noch ein kleines Mädchen, als die Familie 1967 nach Nigeria zog, wo Oguntoyes Vater Professor für Wirtschaftswissenschaften wurde.

Davor hatte es nur negative Begriffe wie das N-Wort gegeben. Deshalb wollten wir einen Begriff prägen, mit dem wir uns positiv identifizieren konnten.
— Katharina Oguntoye

Nach Nigeria zu ziehen „war etwas sehr Außergewöhnliches“, erinnert sie sich. „Es wurde zu einem großen Abenteuer. Ich hatte dort zwei gute Jahre. Wir lebten in einer Universitätsstadt.“ Dieses Abenteuer fand 1969 mit dem Beginn des Biafra-Kriegs ein jähes Ende. Mit ihrer Mutter kehrte Oguntoye nach Deutschland zurück, nun nach Heidelberg, wo ihre Tante lebte.

In Deutschland hielt die Familie eng zusammen und lebte wie in einer Blase. Obwohl US-Soldat*innen, viele von ihnen Afroamerikaner*innen, in Heidelberg stationiert waren und es viele ausländische Tourist*innen und Student*innen gab, und sogar einen Jazzclub, gab es in der jüngeren Generation „noch nicht einmal eine Handvoll Schwarze Deutsche“, sagt Oguntoye. „Es ist einfach erstaunlich“, fügt sie hinzu, wie wenig Integration es gab.

Es war während dieser Zeit, dass Oguntoye begann, sich mit der Geschichte des Holocaust zu beschäftigen, indem sie sich die Dokumentar- und Spielfilme ansah, die spät abends ausgestrahlt wurden, als viele schon im Bett waren. „So viele Menschen haben [diese Sendungen] nicht gesehen, aber ich habe sie alle geschaut“, sagt sie. „Ich wusste gut Bescheid, und das hat meine Kindheit stark beeinflusst.“ 

Farbe bekennen

In Heidelberg wurde Oguntoye Umwelt- und Frauenrechtsaktivistin. Die Zeit war reif: die erste Ausgabe der Emma, der ersten feministischen Zeitschrift Deutschlands, wurde 1977 veröffentlicht. „Ich fand das sehr spannend“, sagt sie. Schließlich fand sie die Umweltbewegung „sehr männerdominiert. Ich sagte mir: ‚Das ist nichts für mich‘, obwohl ich mich natürlich für das Thema ziemlich begeisterte.“

1982 zog Oguntoye nach West-Berlin, wo sie schließlich als einzige Schwarze in ihrem Jahrgang Abitur machte. Sie engagierte sich für Gender Empowerment und hatte ihr Coming-Out als Lesbe.

1985 fing sie an, an der Technischen Universität Berlin Geschichte zu studieren. Ein Jahr danach gab sie auf Anregung der amerikanischen Feministin und Bürger*innenrechtsaktivistin Audre Lorde, die in den 1980er Jahren in Berlin lehrte, das Buch „Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte“ mit heraus.


Katharina Oguntoye und Audre Lord


Sie und ihre Mitherausgeberinnen interviewten im Laufe von zwei Jahren Frauen, deren Schwarze Wurzeln auf die deutsche Kolonialgeschichte zurückgingen oder die nach dem Zweiten Weltkrieg als Töchter einer deutschen Mutter und eines afroamerikanischen Vaters geboren wurden. Es war das erste Buch, das das Wort „Afro-Deutsche“ verwendete, und das erste, das den alltäglichen Rassismus, den sie erlebten, beschrieb.

„Das erstes Anliegen mit dem Buch ‚Farbe bekennen‘ war, bei den Menschen ein Bewusstsein zu wecken“, sagt Oguntoye. „Denn sie sagten: ‚Ach, wir haben keine Schwarzen in Deutschland.‘ Wir alle wurden mit der Frage konfrontiert: ‚warum sprichst du so gut Deutsch?‘ oder: ‚Willst du nicht nach Hause gehen, ins Land deines Vaters?‘ Als würden sie einen wegschicken. Was ziemlich grob ist. Und die Menschen haben gar nicht bemerkt, wie unsensibel das ist.“

Im Vorwort ihres Buchs erklärten die Herausgeberinnen, warum der Begriff „afro-deutsch“ nötig war. „Davor hatte es nur negative Begriffe gegeben, zum Beispiel das N-Wort. Deshalb wollten wir einen Begriff prägen, mit dem wir uns positiv identifizieren konnten“, sagt Oguntoye, deren Abschlussarbeit 1997 – und 2022 in zweiter Auflage – als Buch mit dem Titel „Schwarze Wurzeln. Afro-deutsche Familiengeschichten von 1884 bis 1950“ veröffentlicht wurde.

„Ich hatte großes Glück, dass mein interkulturelles Erbe so stark war“, sagt Oguntoye. Neben Nigeria liegen die Wurzeln ihrer Familie auch in Großbritannien und der ehemaligen Tschechoslowakei. Als Kind hat sie sich als „Afro-Europäerin“ beschrieben, sagt sie, „weil das meine Realität war. Aber andere Menschen, die mit ihrer Erfahrung sehr einsam waren ... hatten es sehr schwer, die Frage zu beantworten ‚wer bin ich und wie passe ich hier rein?‘“

Eine Gemeinschaft schaffen

Ein Ziel von „Farbe bekennen“ war, die Gesellschaft zu verändern. Ein weiteres war, Menschen afrikanischer und afro-deutscher Herkunft zu empowern zu sagen: „Dies ist mein Land; ich habe das Recht, hier in Deutschland zu sein.“

Als das Buch veröffentlicht wurde, war Oguntoye dabei, die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland mit zu gründen. 1992 startete Oguntoye die afro-deutsche Frauengruppe Adefra, und 1997 gründete sie den interkulturellen Verein Joliba, der für Menschen vieler verschiedener Kulturen, schwerpunktmäßig der afrikanischen Diaspora, soziale und kulturelle Angebote macht.

„Die Organisation hat Tausende Familien unterstützt, Chancen geschaffen und unbedingt notwendige Ressourcen für ihr Wohlergehen angeboten“, sagt die interkulturelle Psychologin Alina Winkler, Mitglied des Teams von Joliba. „Katharinas Vision und Engagement haben den Weg dafür geebnet, dass die Organisation ihre Mission weitertragen und sicherstellen kann, dass ihr Wirken für kommende Generationen Bestand haben wird.“

Aus der Arbeit bei Joliba entstand u.a. die Verbindung zum britisch-karibischen Künstler Satch Hoyt, der in Berlin lebt. Er sprach mit Oguntoye über seine Idee für ein Denkmal für „Schwarze Überlebende von Kolonialismus, dem Holocaust und Rassismus“. Das Multimedia-Denkmal – „Der Schrein für die vergessenen Seelen“ – soll aus mit unterschiedlichen Mengen Wasser gefüllten Glasflaschen konstruiert werden, die man anschlagen kann, um verschiedene Töne zu erzeugen. Betrachter*innen, die inmitten des Denkmals sitzen, sollen die Zeug*innenaussagen von Nachkommen afrikanischer Überlebender hören, von ihnen selbst gesprochen.

Das Denkmal hat die bürokratischen Hürden noch nicht überwunden. Aber Oguntoye und Hoyt hoffen, dass es eines Tages realisiert wird.

„Erst vor kurzem haben die Deutschen begonnen, von der Amnesie, in der sie sich vergraben, wenn es um ihre kolonialen Eroberungen geht, den Staub wegzublasen“, sagt Hoyt, der Oguntoye vor rund zehn Jahren die Idee für das Denkmal vorstellte. „Sie war von der Idee begeistert. Damals gab es keine Denkmäler für Afrikaner*innen“, sagt er.

Heute gibt es eine Handvoll kleiner Denkmäler, u.a. Stolpersteine, die Afro-Deutschen gewidmet sind. Zudem sind Schritte unternommen worden, Straßennamen zu ändern, die in einer rassistischen kolonialen Denkweise verhaftet sind.

„Katharina Oguntoye ist eine wahrlich bahnbrechende Schwester/Schülerin von Audre Lorde, die seit Jahrzehnten die Fackel für die afro-deutsche Community und die transnationale afrikanische Diaspora hochhält“, sagt Hoyt.

„Dreh- und Angelpunkt ihres bedingungslosen, selbstlosen Engagements als Chronistin und Gestalterin der relativ neuen Schwarzen Community in Deutschland sind zahlreiche kreative Projekte, von denen die meisten, aber nicht alle, bei ihrer Basisorganisation Joliba konzipiert wurden. Ich fühle mich wirklich geehrt, dass ich bei einigen mitgearbeitet habe“, fügt er hinzu.

2020 erhielt Oguntoye in Anerkennung ihres Lebenswerks gegen Sexismus, Rassismus und Homophobie den Preis für Lesbische Sichtbarkeit für Berlin. 2022 wurde sie mit dem Bundesverdienstkreuz und 2023 mit dem Preis „Rosa Courage“ der Stadt Osnabrück für LSBTI-Menschen ausgezeichnet.

Aber dennoch: „Zu wenige Menschen wissen, wie unermüdlich sie arbeitet, um die Gesellschaft für alle gerecht zu machen,“ sagt Tiffany N. Florvil, Historikerin an der University of New Mexico, die an der Nominierung von Oguntoye für einen Obermayer Award mitgewirkt hat. 

Florvil, die vor 20 Jahren das Buch „Farbe bekennen“ entdeckte, beschreibt Oguntoye als „Verkörperung von Mut, Güte und Kraft, [die] für viele Communitys erhebliche Opfer gebracht hat, ohne im Gegenzug überhaupt etwas zu erwarten.“

Margaret Hampton, emeritierte Deutschprofessorin des Earlham College in Indiana/USA, sagt, dass ihre Student*innen Oguntoye beim Studium in Berlin kennenlernten, und manche haben sogar ein Praktikum bei Joliba absolviert. „Als Historikerin hat Katharina meinen Student*innen und auch den Lehrkräften Teile der Vergangenheit nahegebracht, über die die meisten sehr wenig wussten. Als engagierte und fürsorgliche Aktivistin hat sie ihnen geholfen, schwelende, häufig schmerzhafte Angelegenheiten der Vergangenheit in einer Art und Weise anzugehen, die produktiv und weniger bedrohlich war und die gleichzeitig der Vergangenheit gerecht wurde und Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg.“

— Obermayer Award 2024

 
 

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