Obermayer Award

„Ich erfinde keine Geschichten. Ich verwende das, was geschrieben steht …“

Elisabeth Kahns historisch-künstlerische Projekte entfalten eine enorme Wirkung, insbesondere bei den beteiligten Schüler*innen.

Am 82. Jahrestag der Reichspogromnacht im November 2020 machte sich eine Gruppe Berliner Schüler*innen auf den kurzen Weg von ihrem modernen Schulgebäude zu einer Gedenkstätte auf der anderen Straßenseite. Die wenigen Schritte führten die Jugendlichen in die Vergangenheit, zum ehemaligen Moabiter Güterbahnhof, von dem aus vor achtzig Jahren mehr als 30.000 jüdische Menschen, darunter viele Ältere und Kinder, während der NS-Zeit in den Tod deportiert wurden. 

An den Überresten von Gleis 69, das heute eine Gedenkstätte ist, legten die Achtklässler*innen der Theodor-Heuss-Gemeinschaftsschule selbst angefertigte Tonskulpturen nieder – Spielzeuge wie ein kleines Auto oder ein Teddybär –, als Symbole für die Kinder, die im Holocaust starben. Auf den angrenzenden Mauern platzierten die Jugendlichen Tonköpfe, um auszudrücken, dass die Deportationen nicht im Verborgenen stattfanden, sondern im öffentlichen Raum, und dass Menschen aus der Nachbarschaft das Geschehen beobachten konnten. 

Die Gedenkveranstaltung war Teil eines mehrdimensionalen Schülerprojekts. Dabei erschlossen die Jugendlichen sich zunächst anhand von Original-Dokumenten aus der NS-Zeit die Lebensgeschichte von Marianne Sander und ihrer Großmutter Lise Herbst und setzten sie anschließend in eine szenische Darstellung um. 

„Während die Enkelin im letzten Augenblick Deutschland verlassen kann, wird die Großmutter zurückbleiben müssen“, trägt ein Schüler in einem Film über das Stück vor.

Die Jugendlichen an dieser Schule haben überwiegend einen Migrationshintergrund und stammen häufig aus muslimischen Familien mit Wurzeln im Nahen Osten, Afghanistan, den Balkanländern und Afrika. Der Zugang zur deutschen Geschichte und zum Genozid an der jüdischen Bevölkerung ist für sie oft schwierig. 

600 km weiter südlich, in Augsburg, beteiligten sich Schüler*innen aus der bayerischen Stadt an einem Theaterprojekt über die Arisierung von zwei jüdischen Unternehmen in der NS-Zeit. Das Stück, das auch Tanz und Musik integriert und ebenfalls auf Original-Dokumenten und -Quellen basiert, wirft ein Licht auf die persönlichen Geschichten von Familien aus der Heimatstadt der Schüler*innen. Die abstrakte und schwer zu begreifende „Idee“ des Holocaust wird in eine starke, unmittelbare Erfahrung umgesetzt.

Schöpferin dieser beiden fesselnden und bewegenden Theaterprojekte ist Elisabeth Kahn, eine inspirierende Künstlerin und Pädagogin, die sich seit 20 Jahren der Arbeit mit Jugendlichen in intensiven Theaterprojekten zur deutsch-jüdischen Geschichte widmet. 

Kahn arbeitet mit dem Verein „Tanz Theater Dialoge“ zusammen, den sie 2009 mit gegründet hat. Hier verschmelzen ihre beiden beruflichen Leidenschaften: Darstellende Kunst und Pädagogik. Mit einem Team von Menschen verschiedenster Disziplinen hat der Verein bereits um die 50 Projekte realisiert, die historische Themen bearbeiten und zeitgemäß vermitteln.

Kahns innovativer und kreativer theaterpädagogischer Ansatz erreicht junge Menschen, deren Lebenswelten Generationen – und manchmal Kulturen – entfernt sind von den tragischen Geschehnissen in der Vergangenheit ihres Landes. Für Kolleg*innen und Schüler*innen besticht Kahns Arbeit durch ihre Authentizität und den Fokus auf lokalen Ereignissen. Die Jugendlichen beschäftigen sich intensiv mit historischen und persönlichen Zeitdokumenten und geben bei ihren Auftritten den Menschen der Vergangenheit eine Stimme. 

Für Kahn ist die Wissensvermittlung mit Lehrbüchern wichtig, der Geschichtsunterricht aber ihrer Meinung nach oft zu abstrakt: „An einem konkreten Textbeispiel kann man viel besser nachvollziehen, worum es eigentlich geht. Diese Original-Dokumente sind so klar und so erschreckend beim Lesen, aber wenn man es hört, hat das noch mal eine ganz andere Wirkung. Wenn es gut rüberkommt, erreicht man Menschen generationsübergreifend“, sagt sie. „Es ist nicht unbedingt mein Ziel, dass es sie emotional mitnimmt, ich will, dass sie es rational verstehen. Ich erfinde keine Geschichten. Ich verwende das, was geschrieben steht, und lege den Menschen keine Worte in den Mund.“ 

„Die Auseinandersetzung mit dem Deportationsgleis gegenüber der Schule wird durch den schauspielerischen Zugang verstärkt“, sagt Sabeth Schmidthals, Lehrerin an der Theodor-Heuss-Gemeinschaftsschule und Obermayer-Preisträgerin 2020, die bei mehreren Projekten mit Kahn zusammengearbeitet hat.

Schmidthals̕ Generation konnte noch mit Holocaust-Überlebenden sprechen. „Das war für mich als Jugendliche sehr, sehr beeindruckend“, sagt sie. Da die Zahl der noch lebenden Zeitzeug*innen jedoch immer weiter schrumpft und die verbliebenen oft nicht mehr in der Lage sind, Schulen zu besuchen, wird es für die Schüler*innen schwieriger, ihre Geschichten aus erster Hand zu hören – Geschichten, die historische Ereignisse auf so persönliche Weise nahebringen. „Ich denke, in gewissem Sinne können diese historischen Orte das auch“, sagt sie am Gleis 69. 

Elisabeth Kahn vermittelt den Schüler*innen mit ihrem Projekt starke, greifbare Erfahrungen. „Sie nimmt diesen authentischen Ort, wo die Schüler*innen wissen, was hier tatsächlich passiert ist, und verknüpft ihn mit den Menschen, die von hier deportiert wurden“, sagt Schmidthals.

Kahn ist in Berlin aufgewachsen. Sie machte zunächst eine Ausbildung zur Tänzerin in New York, Los Angeles und Berlin und arbeitete danach in Engagements in den USA und Europa. Nach ihrer erfolgreichen künstlerischen Karriere studierte sie Erziehungswissenschaften an der Technischen Universität Berlin. 

Schon während ihrer aktiven Zeit als Bühnenkünstlerin begann Kahn sich dem Thema Antisemitismus anzunähern. In den zwei Jahrzehnten seither und in den 12 Jahren seit der Gründung von „Tanz Theater Dialoge“ hat sie ihre künstlerisch-pädagogische Vision immer wieder auf eine Weise umgesetzt, die bei Publikum und Beteiligten gleichermaßen nachhaltig wirkt.

„Die hohe Qualität der Darbietungen und das große Engagement der Jugendlichen macht deutlich, wie sehr sie das Thema Antisemitismus und das Engagement gegen Vorurteile zu ihrem eigenen gemacht haben. Es ist letztendlich Antirassismus-Arbeit, würde ich sagen, die wir hier machen“, sagt Schmidthals.

Sie fügt hinzu, dass Kahn den Schüler*innen dadurch, dass sie Fachleute mitbringt – Künstler*innen, Bühnenbildner*innen und andere –, eine enorme Professionalität bietet und ein Niveau, das ansonsten gar nicht möglich wäre: „Das hebt sie auch; sie merken, dass sie etwas Gutes machen.“

Das große Engagement der Jugendlichen macht deutlich, wie sehr sie das Thema Antisemitismus und das Engagement gegen Vorurteile zu ihrem eigenen gemacht haben.
— Sabeth Schmidthals

© Jens Winter

© Jens Winter

© Frauke Wichmann

© Frauke Wichmann


Im November 2019 führten Schüler*innen der Theodor-Heuss-Schule in der szenischen Lesung „Ob ich noch einmal wiederkomme? Erinnerung an die Familie Meyerowitz“ das Schicksal eines prominenten Leipziger Anwalts und seiner Frau, Martin und Helene Meyerowitz, eindrucksvoll vor Augen, indem sie Original-Texte aus zeitgenössischen Dokumenten vortrugen. Helene wurde von dem Gleis aus deportiert, an dem die Jugendlichen jeden Tag auf dem Weg zur Schule vorbeilaufen. Sie starb später in Theresienstadt. Auch ihr Mann Martin wurde von den Nationalsozialisten ermordet. 

„Ich wusste überhaupt nichts über jüdische Menschen“, sagt Isra, eine ehemalige Schülerin mit palästinensischem Hintergrund, die an der Aufführung beteiligt war. „Die Leute sagen, dass man nicht über die Vergangenheit reden soll. Aber wir wollen nicht, dass sich die Geschichte wiederholt.“

Im Publikum saß damals auch Rosa Marshall, die in London lebende 79-jährige Enkelin des Ehepaars Meyerowitz. Der Kontakt zu Nachkommen der Menschen, deren Geschichte sie erzählt, ist Kahn sehr wichtig. 

So schlimm der Inhalt der Stücke oft ist, gibt er den Schüler*innen letztendlich doch Stärke, ist Schmidthals überzeugt: „Sie merken, sie können etwas dagegen tun [Vorurteile in der heutigen Zeit], indem sie Aufklärung betreiben.“ 

Der Berliner Schüler Abdulrahim Zarabi stimmt seiner Lehrerin zu: „Das ist zeitrelevant“, weil es auch heute noch rassistische und religiöse Diskriminierung gibt. „Ich finde, es ist sehr wichtig, dass auch die neuen Generationen, ich meine die jüngeren, davon etwas mitbekommen [vom Holocaust] … damit sie aus den Fehlern lernen“ und verhindern können, dass die Geschichte sich wiederholt.

In Augsburg hat Kahn mehrere Produktionen des Stücks „Der zerbrochene Kelch“ geleitet. Dabei geht es um die jüdischen Familien Kahn und Arnold, deren Unternehmen im Rahmen der NS-Arisierung enteignet wurden. 

„Ein Thema, das ansonsten eher abstrakt im schulischen Geschichtsunterricht – wenn überhaupt – vorkommt, gewann dadurch eine konkrete Lebendigkeit, die Geschichte und Lokalgeschichte für die beteiligten Jugendlichen anschaulich und gefühlsmäßig erfahrbar werden ließ“, sagt Ute Legner, die bei dem Projekt mit Kahn zusammengearbeitet hat. 

2017 kuratierten Kahn und Dr. Karl Murr die Ausstellung „Kahn & Arnold“ im Staatlichen Textil- und Industriemuseum Augsburg, dessen Leiter Murr ist. 25 Nachfahren der zwei Familien, die auf vier Kontinenten leben, reisten zur Eröffnung nach Augsburg. Sie nahmen dort an verschiedenen Gedenkveranstaltungen und Gesprächen mit Schüler*innen teil. 

Die Mitwirkung an der ersten Produktion von „Der zerbrochene Kelch“ im Jahr 2017 hat Benedikt Hochmuth, der als Musiker und Schauspieler beteiligt war, nachhaltig geprägt. „Eine solch intensive Beschäftigung mit der Geschichte des Nationalsozialismus aus meiner Heimatstadt außerhalb der Schule war für mich völlig neu“, sagt er und erinnert sich daran, wie Elisabeth Kahn ihm half, das anspruchsvolle Thema auf die Bühne zu bringen.

Er beteiligte sich später mit Begeisterung an weiteren Produktionen des Stückes. Es „bereicherte nicht nur mein Leben, sondern auch das meiner ganzen Familie. Oftmals saßen wir abends noch da und diskutierten über Eindrücke und Erlebtes. Ich bin dankbar, Teil dieses Projekts gewesen sein zu dürfen, und ich wäre zu jeder Zeit wieder mit dabei“, sagt Hochmuth. 

Der schönste Dank ist für Kahn, wenn sie spürt, dass es bei den Beteiligten „Klick“ macht. Die vertiefte Auseinandersetzung mit Augenzeugenberichten und anderen Dokumenten, die die Grundlage der Inszenierungen bilden, führt dann zu Erkenntnissen, die auf ihr eigenes Leben ausstrahlen.

„Diese Menschen, die verfolgt wurden, waren nicht anders als alle anderen in Berlin oder Augsburg“, sagt sie. „Wenn Beteiligte und Publikum das verstehen, ist das für mich schon erfüllend.“

 
 

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