Obermayer German Jewish History Award, Jubiläums-Auszeichnung

Vehemente Verteidigung der Demokratie gegen Rechtsextremismus

Das Netzwerk für Demokratische Kultur bekämpft Angst, Hass und Vorurteile mit Gemeinschafts- und Bildungsinitiativen.

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Hinter der ruhigen Fassade der Pestalozzi-Oberschule in Wurzen geht es oft rau zu und es gibt viele Probleme: Rechtsextreme Jugendliche bedrohen Mitschülerinnen und Mitschüler, die in ihren Augen nicht dazugehören, Betroffene bewegen sich ängstlich durch die Flure. Lehrerschaft und Verwaltung bemühen sich, das Problem in den Griff zu bekommen, aber Strafen scheinen keinerlei Wirkung zu zeigen.

Es sind Orte wie dieser, an denen das Netzwerk für Demokratische Kultur, kurz NDK, eingreift und versucht, mit partizipativen und auf die Teenager zugeschnittenen Formaten zu ihnen durchzudringen und die demokratischen Grundwerte zu vermitteln. „Es ist eine schwierige Arbeit, aber jemand muss sie machen“, sagt Melanie Haller, Vereinsmanagerin beim NDK. „Das ist überall in Deutschland ein Problem; die Menschen haben Angst, den Mund aufzumachen gegen Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“, klagt sie. „Sie glauben, dass alles gut ist, wenn man nur zu Hause vor dem Fernseher sitzen bleibt, aber so funktioniert das nicht.“

Es gibt da draußen Menschen, die etwas verändern wollen, „aber sie sind nicht immer laut genug“, kommentiert Geschäftsführerin und Projektleiterin Martina Glass. „Wir müssen sie unterstützen, damit sie sichtbarer werden.“

Das NDK wurde vor 20 Jahren als Reaktion auf neonazistische Gewalt gegründet. „Der damalige Oberbürgermeister war der Meinung, dass wir kein Problem mit Neonazis hätten“, erinnert sich Melanie Haller, Vereinsmanagerin beim NDK. Das wahre Problem seien die ,Nestbeschmutzer‘“, die ihren Heimatort schlecht redeten. 

Schließlich, erklärt sie, „taten sich einige junge Menschen zusammen und beschlossen, etwas zu tun.“ Dieses Engagement mündete in die Gründung des NDK.

Das breite Angebot des NDK reicht von der Unterstützung von Projekten zur Demokratieförderung in dieser ostdeutschen Region, Initiativen für Menschen mit Migrationshintergrund und Geflüchtete, die häufig Ziel rechtspopulistischer Angriffe sind, über die Vermittlung von geschichtlichem Wissen zur Verfolgung der Juden in der NS-Zeit und Projekten in Schulen bis hin zu öffentlichen Veranstaltungen, bei denen Menschen unterschiedlicher Herkunft und Hintergründe zusammenkommen. Mit seinen zehn Mitarbeitenden sowie Dutzenden Freiwilligen führt das NDK jedes Jahr 40 bis 50 Projekte und Veranstaltungen durch, bei denen es 5.000 bis 6.000 Menschen aller Alters- und Bevölkerungsgruppen erreicht. 

Beispiele für Projekte:

  • Workshops zu verschiedensten Themen: Geschichte der NS-Zeit; Ostdeutschland, die Zeit der Wiedervereinigung und ihre Folgen sowie Begegnungen mit Zeitzeugen; Gedenkveranstaltungen; Bildungsfahrten zu den Konzentrationslagern Auschwitz und Theresienstadt oder zu historischen Orten der DDR-Zeit.

  • Kulturangebote: Theater, Lesungen, Konzerte, Filme und eine mobile Bühne.

  • Politische Workshops mit Diskussionen: „Open Space“-Seminare zur Vermittlung demokratischer Grundwerte und Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.

  • Beteiligungsprojekte mit einer Internet-Plattform und einem mobilen Klassenzimmer, das von Jugendlichen für Kurse zu beliebten Freizeitthemen entwickelt wurde.

  • Koordination von ehrenamtlichen Projekten mit Geflüchteten, zum Beispiel eine Kleiderkammer und ein Café, in dem sich Menschen mit Migrationshintergrund und Einheimische begegnen. 

Das NDK wurde fast von Beginn an für seinen Beitrag zur demokratischen Zivilgesellschaft gewürdigt: vom Förderpreis Demokratie leben des gleichnamigen Initiativkreises des Deutschen Bundestags im Jahr 2001 für das Projekt Auschwitzbegegnung bis hin zum Engagement-Preis für demokratische Kultur 2018, der von der sächsischen Landtagsfraktion der Partei Die Linke ausgelobt wurde.

In der Begründung heißt es: „Das NDK streitet seit 19 Jahren für Vielfalt und Toleranz.“ Es setzt mit seinen ehren- und hauptamtlichen Mitarbeitenden jährlich Dutzende von Projekten um.

„Sie schaffen für Bürger und Bürgerinnen, Jugendliche und Kinder offene Räume und fördern so eine aktive demokratische Zivilgesellschaft. Für ihre Arbeit müssen sich die Engagierten öffentlich und in sozialen Netzwerken rechtfertigen und Angriffe ertragen. Trotz aller Widerstände zeigen sie dennoch Haltung.“

Tatsächlich besteht eine der größten Herausforderungen dieser Arbeit darin, vor Ort breite Unterstützung gegen gewaltbereite neonazistische Gruppen zu gewinnen. Die Menschen haben Angst davor, sich klar zu positionieren und damit womöglich in der eigenen Nachbarschaft zur Zielscheibe zu machen oder als Verräter abgestempelt zu werden.

Für Anetta Kahane, Gründerin der in Berlin ansässigen Amadeu Antonio Stiftung, die sich gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus engagiert, steht das NDK in Wurzen für den Versuch, eine von Neonazis dominierte Stadt zu einem weltoffenen Ort zu machen. Sie erinnert sich noch an die Zeit, als das NDK mit seiner Arbeit begann und es keinen einzigen Jugendclub in der Stadt gab, der nicht von Neonazis dominiert wurde. Heute treffen sich die Jugendlichen beim NDK, wo derzeit zusätzliche Räume für Seminare und sogar Gästezimmer eingerichtet werden.

Demokratie kann laut und chaotisch sein. Heute findet das jährliche „Open Space“-Seminar des NDK mit Schülerinnen und Schülern der 10. Klasse an der Pestalozzi-Oberschule in Wurzen statt. Um die 60 Teenager lachen und amüsieren sich bei einer Eisbrecher-Improvisation des Knalltheaters.

Es folgt die erste Lektion in gelebter Demokratie: In Arbeitsgruppen diskutieren die Teenager über selbst gewählte Themen. In typischer Teenagermanier fordern sie „mehr Fastfood-Läden“, die „Legalisierung von Marihuana“ und „mehr Jugendclubs“. Das Thema „Sicherheit“ steht ganz unten auf der Liste.

Die Jungen, die an diesem letzten Workshop teilnehmen, haben viel zu sagen – über ihre Angst vor Schikane und Mobbing an der Schule und Terror in den Straßen. Sie zittern förmlich, während sie erzählen, wie rechtsextreme Jugendliche andere prügeln, bedrohen und einschüchtern. Und dass viele Jugendliche Angst haben, den Mund aufzumachen und füreinander einzustehen.

„Ich bin traurig und wütend“, sagt einer von ihnen. Ein anderer gibt zu: „Ich habe Angst“. 

In einer moderierten Arbeitsgruppe brainstormen sie zu möglichen Reaktionen und erarbeiten Vorschläge wie die Gründung eines Anti-Mobbing-Clubs an der Schule oder mehr Überwachungskameras an Hotspots wie Bahnhöfen. Am Ende der Session geht es den Jungen etwas besser. „Ich bin froh, dass ich mal über das reden konnte, was ich erlebt habe“, sagt einer von ihnen.

Manchmal sind es kleine Momente wie dieser, die zeigen, wie wertvoll die Arbeit des NDK ist.

„Ich finde die Arbeit mit Jugendlichen sehr spannend“, sagt Glass, die deren Frustration und Ängste gut versteht. Auch Mitarbeitende des NDK wurden schon zum Ziel von Einschüchterungsversuchen, das Haus mehrfach angegriffen. „Aber“, sagt sie, „wir haben eine Bürgerbewegung, und das stimmt mich optimistisch.“

 
 

EINE MAUER, DIE VERBINDET

Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre haben Schülerinnen und Schüler einer Berliner Grundschule am Standort einer ehemaligen Synagoge Stein für Stein eine Mauer errichtet, die eine starke Botschaft zur Bedeutung von Gemeinschaft vermittelt.

 

VON SCHÜLERN FÜR SCHÜLER

Als eine Gruppe von Neuntklässlern im Jahr 2003 Rolf Joseph begegnete, waren sie von seinen Erzählungen vom Überleben im Holocaust so beeindruckt, dass sie sich intensiv mit seinem Lebensweg auseinandersetzten und ein erfolgreiches Buch über ihn schrieben. Heute regt die Joseph-Gruppe Schulklassen dazu an, sich ebenfalls mit der jüdischen Geschichte zu befassen.

 

„ICH SPRECHE FÜR DIE MENSCHEN, DIE NICHT MEHR FÜR SICH SELBST SPRECHEN KÖNNEN“

Margot Friedländer beschreibt in ihrer Autobiographie, wie sie als Jüdin in Berlin den Zweiten Weltkrieg in Verstecken überlebte. Heute ist sie 96 Jahre alt und spricht eindrucksvoll über die Ereignisse, die ihr Leben prägten, und ihre Relevanz in der heutigen Zeit.