Obermayer Award

Spurensuche an vergessenen Orten

Es gibt nur noch wenige Zeitzeugen – das Bildungsprojekt zeitlupe nimmt deshalb historische Orte in den Fokus

Toby Axelrod

Es langsam angehen lassen ... Gar nicht so einfach in unserer hektischen Zeit, aber genau das ist es, was das Projekt zeitlupe im Wortsinn von seinen Teilnehmer*innen fordert: sich Zeit nehmen, einen Schritt zurücktreten und auf die eigene Geschichte blicken, um dann nach vorne zu gehen.

Das Bildungsprojekt unter dem vollen Namen „zeitlupe | Stadt.Geschichte & Erinnerung (Projekt in Trägerschaft der Regionalen Arbeitsstelle für Bildung, Integration und Demokratie (RAA) Mecklenburg-Vorpommern e.V.)“ ist in Neubrandenburg ansässig. zeitlupe setzt sich anhand der Lokalgeschichte mit der Zeit des Nationalsozialismus und der DDR auseinander, entwickelt Unterrichtsmaterialien für Schüler*innen aller Altersklassen und macht „vergessene“ historische Orte zum Klassenzimmer.

Ziel ist es, wieder im Wortsinn des Namens, „wie mit eine Lupe auf die Zeit zu schauen“, und die Projektteilnehmenden zu befähigen, aus der Geschichte zu lernen und für Menschenrechte und demokratische Werte in der heutigen Zeit einzustehen.

zeitlupe steht für das Lernen vor Ort, wie an den Standorten des ehemaligen NS-Kriegsgefangenenlagers Fünfeichen, der Konzentrationslager Waldbau und Retzow-Rechlin oder der ehemaligen Haftanstalt der DDR-Staatssicherheit auf dem Lindenberg. Waldbau und Retzow-Rechlin waren Außenlager des rund 50 km entfernt liegenden Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück. 

Auf der zeitlupe-Website können Lehrende eine große Materialsammlung gezielt nach Orten, Zeiträumen und Medium durchsuchen, von Fotos über Exkursionen bis hin zu Unterrichtsplänen. So werden diese Örtlichkeiten zum Lernort für verschiedenste Gruppen, von Teenagern bis hin zu Offiziersanwärter*innen der Bundeswehr oder Pflegeschüler*innen. 

zeitlupe berät darüber hinaus auch Behörden, Initiativen und Opferverbände in Fragen zur historisch-politischen Bildung und Erinnerungskultur. Dabei wird grundsätzlich versucht, einen Bezug zur Lebenswirklichkeit der teilnehmenden Jugendlichen und Erwachsenen herzustellen, um die Erfahrungen sinnvoll und nachhaltig zu gestalten. 

„Mit der Lupe findet man auch die Spuren der weniger bekannten Geschichte“, sagt Dr. Constanze Jaiser. Die promovierte Literaturwissenschaftlerin, die seit vielen Jahren als Historikerin und Gedenkstättenpädagogin arbeitet, ist Gründerin und Leiterin des zeitlupe-Projekts. Sie weiß aus persönlicher Erfahrung nur zu gut, dass schwierige Themen Zeit erfordern und nicht ohne Vorbereitung behandelt werden sollten.

„Als Jugendliche war ich schockiert von den Filmen und Dokumentationen, die uns in der 9. Klasse gezeigt wurden. Ich interessierte mich für Geschichte, konnte mich aber nicht [eigenständig] damit auseinandersetzen“, erzählt sie. „Wenn man den Schüler*innen die Realität dieser Gräueltaten vermitteln will, ohne sie zu überfordern, muss man es langsam angehen. Es gilt sie mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten in ihrem eigenen Tempo – und mitunter in Zeitlupe – arbeiten zu lassen.“

So befasste sich beispielsweise eine Gymnasialklasse in einer Projektwoche intensiv mit der deutschen Kolonialisierung afrikanischer Länder im 19. Jahrhundert. Die Schüler*innen besuchten ein regionales Museum mit einer umfassenden Ausstellung zum Kolonialismus, recherchierten zu den aktuellen Beziehungen zwischen Deutschland und den früheren Kolonien und erstellten Videos zu Themen wie Fair Trade und Deutschlands Geflüchtetenpolitik heute. Es war „toll zu sehen, wie sie im Laufe dieser Woche an der Aufgabe wuchsen“, sagt Jaiser und fügt hinzu, dass bei den Schüler*innen mindestens sechs verschiedene Sprachen vertreten waren. „Zum Schluss konnten sie sogar emotional werden, sich streiten und darüber diskutieren, wie die Geschichte ihr Leben beeinflusst hat.“

Für den Historiker Martin Müller-Butz, Mitglied des zeitlupe-Projektteams, ist es wichtig, im Kleinen anzufangen: „Was mich berührt hat, war, dass man an diesen Orten im lokalen Umfeld, an diesen Gedenkorten, die nicht so berühmt oder beliebt sind, auch die Spuren der großen, der Makrogeschichte sehen kann.“ Im Zweiten Weltkrieg kamen beispielsweise im KZ Waldbau in Neubrandenburg Maschinen zum Einsatz, die im besetzten Polen demontiert worden waren. In Waldbau „mussten Zwangsarbeiterinnen Waffen für die Wehrmacht herstellen.“

zeitlupe gelingt es, Orte wie Waldbau sichtbar zu machen, als Mikrokosmos des Gesamtbildes der Geschichte. Derzeit wird hier an der Umsetzung einer offiziellen Gedenkstätte gearbeitet. 

zeitlupe befasst sich auch mit gesellschaftlichen Themen, die Schüler*innen heute bewegen, wie Ausgrenzung und Zwangsmigration. Dabei geht es dem Verein immer darum, eine Verbindung herzustellen zwischen dem Gedenken und der Förderung von demokratischen Werten und aktuellen Herausforderungen wie dem Umgang mit Rechtspopulismus und Fake News. In Zusammenarbeit mit lokalen Kultur- und Bildungseinrichtungen, Gedenkstätten und zivilgesellschaftlichen Gruppen entwickelt zeitlupe Bildungskonzepte und -materialien. Das Projekt verfolgt auch kreative Ansätze und unterstützt beispielsweise die Arbeit von Künstler*innen, die einen emotionalen Zugang zur Geschichte über Musik, Theater, Film und Bildhauerei ermöglichen. 

zeitlupe wird von der in Berlin ansässigen Freudenberg Stiftung gefördert und ist ein Projekt der Regionalen Arbeitsstelle für Bildung, Integration und Demokratie (RAA) Mecklenburg-Vorpommern e. V.

Kunst macht Geschichte spürbar

Ein Beispiel für ein aktuelles künstlerisches Projekt sind die „NamensTropfen“. Dabei wurden die Namen der Frauen und Mädchen aus dem Lager Waldbau in rund 500 Acrylglastropfen eingraviert und im Herbst 2021 in Stahlgestellen an dem Ort im Wald platziert, wo die Gefangenen in teils unterirdischen Anlagen gelebt hatten.

„Die Verbindung zwischen Kreativität und Natur ist eine spannende Grundlage, sich diesem geschichtsträchtigen Ort auf eine sensible und bedeutungsvolle Weise anzunähern“, erläutert Imke Rust, die deutsch-namibische Künstlerin, die diese und eine weitere Installation, Frauen Silhouetten (2019), gestaltet hat.

Am Projekt „Namenstropfen“ waren Schüler*innen beteiligt, die die Biographien der Gefangenen recherchierten und die Namen in die Tropfen gravierten. Im Rahmen des Projekts sprachen sie auch über ihre eigenen Namen und Lebensläufe. „Auf diese Weise vertieft sich die Verbindung zu den Orten“, sagt Rust. 

Für Silvio Witt, Oberbürgermeister von Neubrandenburg und einer der begeistertsten Unterstützer von zeitlupe, verwandelt das Projekt „Zahlen in persönliche Schicksale. Neben den historischen Recherchen findet immer auch eine emotionale Auseinandersetzung mit der Geschichte statt“, erklärt er. Zeitlupe hat „den Zugang zur Vergangenheit enorm erleichtert, und den Kindern und Jugendlichen ihre Stadt nähergebracht“, fügt er hinzu und lobt ihr „leidenschaftliches Engagement dafür, das Lager Waldbau wieder sichtbar werden zu lassen.“ 

Im vergangenen Jahr wurde noch ein weiterer Ort in den Fokus genommen: Eine Gruppe Pflegeschülerinnen verbrachte im März 2021 eine intensive Projektwoche am Standort des ehemaligen NS-Kriegsgefangenenlagers Fünfeichen, das von der Sowjetunion nach dem Krieg als Internierungslager genutzt wurde. Dabei setzten sich die Schülerinnen – Frauen aus Deutschland, Asien und Indien –damit auseinander, wie Menschen in Heilberufen für die genozidalen, rassistischen Zwecke des NS-Regimes missbraucht wurden, wie Dr. Anja Katharina Peters, Professorin für Pflege/Pflegewissenschaft an der Evangelischen Hochschule Dresden und ausgebildete Kinderkrankenschwester erklärt.

Gemeinsam mit Kolleg*innen entwickelte Peters das einwöchige Programm mit Constanze Jaiser anhand historischer Unterlagen. Die Teilnehmerinnen „wählten dann Themen aus, wie medizinische Experimente, Leiden im Lager, medizinische Einrichtungen und Behandlungen“, und erstellten das Konzept für eine Videopräsentation.

„Die Krankenschwestern im Konzentrationslager kümmerten sich um Mitarbeiter und Soldaten der SS, waren aber auch für die Krankenstation für Gefangene zuständig, die sie unfassbar schrecklich behandelten“, erklärt Peters. „Sie assistierten auch bei den medizinischen Experimenten und töteten aktiv Babys, die im Lager geboren wurden. Mein Berufsstand war also aktiv an einem der größten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit beteiligt, und das ist etwas, dem wir uns stellen müssen – nicht nur, um die Opfer zu würdigen, sondern auch, um zu verhindern, dass so etwas je wieder geschehen kann. Wir müssen zukünftige Pflegefachfrauen und -männer lehren, nachzudenken, bevor sie tun, was ihnen aufgetragen wird.“

Den Schülerinnen aus Asien und Indien war diese Geschichte ganz neu. „Ich habe ihnen vor Beginn gesagt, dass es für die Arbeit in Deutschland wichtig ist, diesen Teil unserer Geschichte zu kennen, weil … das tatsächlich immer noch unser Denken in der Medizin, in der Pflege und Hebammenkunde beeinflusst.“

Peters war bei den deutschen Schülerinnen überrascht, dass sie alle „sehr offen, sehr interessiert waren … Normalerweise ist unter den jungen Erwachsenen immer jemand, der sagt: ,Ich habe genug davon gehört.‘ ... Aber in dieser Gruppe war niemand dabei:“ Sie führt dies unter anderem auf Jaisers pädagogischen Ansatz zurück: „Constanze begegnet den Schülerinnen auf Augenhöhe. Sie überfordert sie nie und entwickelt gemeinsam mit ihnen eine Haltung.“ 

Mit Blick auf die Vermittlung der NS-Geschichte ist Jaiser überzeugt: „Die jungen Menschen sind interessiert. Was sie nicht wollen, ist eine moralistische Haltung, die sie in ein Denkkorsett zwingt, und sie wollen auch keine hoch akademische Herangehensweise. Sie brauchen Raum, um ihre eigenen Ideen zu entwickeln und ihre eigenen Argumente zu finden, und sie brauchen Unterstützung bei allem, was sie aufgrund ihrer Jugend nicht wissen können.“ Sie fügt hinzu: „Das macht es den Pädagogen durchaus schwer.“ Die Teilnehmer*innen „haben Familienbiographien, und die sind in Deutschland in der NS-Zeit leider meist nicht auf der Seite der Verfolgten verankert, sondern auf der der Mitläufer – oder schlimmer.“ Oder sie sind durch das Aufwachsen in der früheren DDR belastet, die sich offiziell von der Geschichte des Holocaust lossagte.

„Als Moderatorin muss man alles in Einklang bringen: das Individuum, die Gruppe, das Thema – und die Welt darum herum“, sagt Jaiser, die auch ihre eigene komplizierte Familiengeschichte recherchiert hat. „Zwei Worte sind für mein Berufsleben sehr wichtig, und sie sind eng mit meiner Familienbiographie verbunden: das eine ist ,Denunziation‘, das andere ,Gerechtigkeit‘.“

Jaiser, die in Westdeutschland aufwuchs, betrachtet das 2016 gegründete Projekt zeitlupe als „ideales Betätigungsfeld für mich“, nach jahrzehntelanger Arbeit zu diesem Kapitel der Geschichte. Diese begann schon während ihrer Studienzeit in Berlin, wo sie 1995 eine Dissertation zum Thema „Poetische Zeugnisse. Gedichte aus dem Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück 1939-1945“ schrieb. Sie war danach als Sozialwissenschaftlerin und Pädagogin in vielen verschiedenen Organisationen tätig, meist im Zusammenhang mit der Geschichte des Holocaust. Von 2006 bis 2013 war sie bei der Stiftung Denkmal der ermordeten Juden Europas in Berlin als Projektleiterin für ein Webangebot für Jugendliche zuständig. 

Sie liebt die Arbeit mit Kolleg*innen jeden Alters und weist gerne darauf hin, dass zwischen ihr und Müller-Butz, der 1984 in der ehemaligen DDR geboren wurde, eine ganze Generation liegt. 

„Ich bin eines der letzten Kinder der DDR“, scherzt Müller-Butz, der nahe der Grenze zur Tschechischen Republik aufwuchs. Er studierte später Osteuropäische Geschichte und Politikwissenschaft im thüringischen Jena. Als er bei zeitlupe begann, kannte er die historischen Orte nicht. Und die Teenager, die sich an der Installation der NamensTropfen im Oktober 2021 beteiligten, „kamen das erste Mal wirklich mit der NS-Geschichte in Berührung, speziell in Neubrandenburg.“

Das Gravieren der Namen in die Plexiglastropfen „fand ich sehr bewegend“, erzählt Müller-Butz. Die Schüler*innen „spürten, was es heißt, wenn einem der Name genommen wird und man nur noch eine Nummer ist. Das sind ziemlich drastische Fragen, aber man kann bei den jungen Menschen auch so ansetzen, dass man sie fragt, was ihr eigener Name ihnen bedeutet … Einige erzählten mir, dass sie ihren Namen nicht mögen und nicht wissen, warum ihre Eltern ihn für sie gewählt haben … Wir hoffen, dass diese Workshops sie zum Nachdenken über diese Themen anregen.“

Die Auseinandersetzung mit unserer eigenen Identität im geschichtlichen Kontext „fördert das gegenseitige Verständnis, und das stärkt unseren Zusammenhalt als Gesellschaft“, sagt Oberbürgermeister Witt, der sich auch mit seinen eigenen Wurzeln beschäftigt hat. „Der Mensch ist nicht nur rational; es sind vor allem unsere Gefühle, die uns menschlich machen.“

Das gilt für Witt auch ganz besonders in der Aufarbeitung der Geschichte der DDR-Diktatur, da „viele der Opfer und Täter noch leben und sich im Alltag ständig begegnen ... Da braucht es immer noch ein hohes Maß an Sensibilität, auch 32 Jahre nach dem Fall der Mauer.“

Derzeit stellt zeitlupe gemeinsam mit der Stadt Überlegungen an, wie die ehemalige Haftanstalt der DDR-Staatssicherheit als Ort der geschichtlichen Bildung genutzt werden könnte. „Dafür muss man sich Zeit nehmen, und das werden wir tun“, meint Witt, der in zeitlupe „einen unverzichtbaren Partner in der Erinnerungslandschaft der Stadt“ sieht. 

Mit Blick auf die Auseinandersetzung mit der Geschichte der NS-Zeit sagt Jaiser: „Wir stehen am Beginn einer neuen Zeit, und es ist leider nötig.“ Angesichts des Verlusts der Zeitzeugen im Laufe der Zeit „werden historische Orte immer wichtiger. Seit einigen Jahren wächst überall in Deutschland das Engagement für vergessene historische Stätten.“

— Obermayer Award 2022

(Deutsche Übersetzung: Heike Kähler)

 
 

THIS WALL BRINGS PEOPLE TOGETHER

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STUDENTS REACHING STUDENTS

When a handful of ninth graders from Berlin met Rolf Joseph in 2003, they were inspired by his harrowing tales of surviving the Holocaust. So inspired that they wrote a popular book about his life. Today the Joseph Group helps students educate each other on Jewish history.

 

“I SPEAK FOR THOSE WHO CANNOT SPEAK”

Margot Friedländer’s autobiography details her struggles as a Jew hiding in Berlin during World War II. Now 96, she speaks powerfully about the events that shaped her life and their relevance today.