Obermayer Award

„Alles, was uns heute so selbstverständlich erscheint, … muss täglich neu erkämpft werden.“ 

Volker Kellers Forschungsarbeit unterstreicht die Bedeutung von Anteilnahme in einer vielfältigen Gesellschaft.

Volker Keller, 1954 in Mannheim geboren, wuchs in der Nachkriegszeit auf, die von einer Kultur des Vergessens und Verschweigens geprägt war. Auch in seiner Familie wurde nicht über die Kriegszeit gesprochen.

Wenn die Rede darauf kam, spürte er, dass die Eltern irgendwie anders waren als sonst, als fühlten sie sich unwohl. Das Stichwort Judentum war ein merkwürdiges Thema zu der Zeit, und wenn im Fernsehen Dokumentarfilme über den Krieg liefen, schickten die Eltern ihn aus dem Zimmer.

Tatsächlich wurden an einem einzigen Tag, am 22. Oktober 1940, mehr als 2.000 Jüdinnen und Juden aus Mannheim in französische Konzentrationslager deportiert. Nur wenige überlebten, für die meisten war Auschwitz oder eines der anderen Todeslager die letzte Station ihres Lebens. 

Während seiner Schulzeit hörte Keller aufmerksam zu, wenn die Menschen sich zur NS-Zeit äußerten. „Einige sagten, dass es schrecklich war, was passiert ist, aber andere sprachen fast liebevoll ,vom Adolf‘“, erzählt er. „Mein Interesse war von der Frage geprägt, wie eine solche Ungerechtigkeit geschehen konnte. Aber wenn ich Fragen zur Shoah [Holocaust] stellte, bekam ich nur ausweichende Antworten.“ 

Seit seiner Studienzeit und über die Pensionierung als Lehrer und Schulrektor hinaus hat Keller das Leben, die reiche Kultur und die Geschichte der jüdischen Gemeinde Mannheims von den Anfängen bis zu ihrem brutalen Ende dokumentiert. Dabei waren ihm die Beziehungen zu Holocaust-Überlebenden und den Familien der Opfer, die er während dieser Jahrzehnte umspannenden Forschungs- und Erinnerungsarbeit aufbauen konnte, immer ein besonderes Anliegen. 

Im Laufe von mehr als 40 Jahren hat Keller zahlreiche Überlebende und Angehörige persönlich kennen gelernt, Informationen aus erster Hand gesammelt und Zeitzeugenberichte für die Nachwelt dokumentiert. Seine fünf Bücher und unzähligen Artikel beschreiben die reiche Geschichte und die bedeutenden Beiträge der jüdischen Gemeinde. „Ich möchte nicht, dass das Judentum ausschließlich mit der Shoah in Verbindung gebracht wird. Es ist eine faszinierende Religion und Kultur. Die allgemeine Geschichte der Stadt Mannheim ist untrennbar mit der Geschichte der jüdischen Gemeinde verbunden“, sagt Keller erklärend.

Eines seiner ersten Projekte war die vollständige Erfassung der jüdischen Holocaust-Opfer und ihres Schicksals. In den 1990er Jahren leitete er das Projekt „Spurensuche“, in dem er mit Jugendlichen und Studierenden Archive und Dokumente nach Hinweisen auf die aus Mannheim deportierten Jüdinnen und Juden durchforstete. Im Zuge ihrer akribischen Recherchen nahmen sie auch Kontakt zu Überlebenden und Nachkommen auf. Die Ergebnisse dieser Arbeit wurden 1995 in dem Gedenkbuch „Auf einmal da waren sie weg“ veröffentlicht und so der Stadt, den Überlebenden und den Familien der Opfer zugänglich gemacht.

Das Werk hat eine enorme Wirkung und Reichweite entfaltet. Es erinnert nicht nur dauerhaft an die Opfer des in Mannheim, sondern hat auch wesentlich zur Schaffung des Mahnmals für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus aus Mannheim im Jahr 2003 beigetragen. In das als Glaskubus gestaltete Mahnmal sind die mehr als 2.000 Namen aus dem Projekt Spurensuche auf immer eingraviert.

„Im Talmud steht: ,Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist‘“, sagt Keller. “Ich bin von der enormen Bedeutung der Erinnerungsarbeit überzeugt. Es ist unser Bewusstsein für Geschichte und Kultur, das uns erst zu Menschen macht. Die Bewahrung der Erinnerung an die Opfer der NS-Zeit ist wichtig, um zu verhindern, dass die Geschichte sich wiederholt.“  

Eine Botschaft der Anteilnahme

Im Zuge seiner umfassenden Recherchen stieß Keller auch auf Belege für so genannte „Judenhäuser“ in Mannheim, in denen die jüdische Bevölkerung während der NS-Zeit zwangseinquartiert wurde bzw. Zuflucht fand. Im größten dieser Häuser, Große Merzelstraße 7, lebten 76 Menschen bis zu ihrer Deportation im Jahr 1940. Keller nahm Kontakt zu ehemaligen Bewohner*innen auf, die überlebt hatten, und trug ihre Erfahrungen zusammen. Diese Zeitzeugenberichte flossen in eine Publikation aus dem Jahr 2003 über die Geschichte des Hauses ein. 

Unter den Personen, die Keller kontaktierte, waren auch Mitglieder der Familie Barnea (geb. Heilbronner) aus Israel. Uri Barnea und sein verstorbener Bruder Daniel sind in dem Haus geboren und aufgewachsen. Als Keller im Jahr 2012 vorschlug, eine Erinnerungsstele für die jüdischen Bewohner*innen zu errichten, griffen die Brüder die Initiative auf. Keller übernahm die Organisation, verfasste den Gedenktext, verhandelte mit der Stadt und begleitete den gesamten Prozess bis zur Errichtung der Stele. Sie steht heute am Mannheimer Bismarckplatz, nur 50 Meter entfernt von dem Ort, wo früher das Judenhaus stand. Die Stele trägt auf der Vorder- und Rückseite zwei Glastafeln – eine mit Bild und Text zur Geschichte des Hauses und eine mit den Namen der 76 Bewohner*innen.

An der Feierstunde zur Einweihung der Stele im März 2014 nahmen mehr als 100 Mannheimer Bürger*innen und 30 Mitglieder der Familie Barnea teil, darunter auch der damals 85-jährige Daniel Barnea. Sein Sohn Nir Barnea würdigt Kellers Unterstützung bei der Auseinandersetzung seiner Familie mit schmerzhaften Erinnerungen. Über viele Jahre hinweg hatte sein Vater nicht über den Holocaust sprechen wollen und sich geweigert, Mannheim zu besuchen. Der Schmerz war einfach zu groß. „Auch ich hatte diesen Schmerz verinnerlicht und Deutschland gemieden. Erst Volker Kellers einfühlsame Herangehensweise und sein aufrichtiges Interesse an den Erfahrungen meines Vaters und meines Onkels Uri machte einen Sinneswandel bei meinem Vater möglich“, sagt er. Auch Nir Barnea änderte seine Meinung und reiste gemeinsam mit weiteren Familienmitgliedern nach Mannheim.

In einem Grußwort anlässlich der Einweihung sagte er: „Die beste Antwort auf die schrecklichen Jahre des NS-Regimes und der Shoah ist es, hier an diesem Mahnmal gemeinsam mit Mitgliedern der Gemeinde zu stehen und eine Botschaft der Toleranz, des Friedens und des Mitgefühls auszusenden.“ 

Im Anschluss fand am Mannheimer Karl-Friedrich-Gymnasium eine von Keller mitorganisierte Veranstaltung statt, bei der er zusammen mit Daniel Barnea einen Vortrag zum Leben von Daniel und seinem Bruder Uri in der NS-Zeit hielt. Für die meisten teilnehmenden Lehrer*innen und Schüler*innen war dies die erste Begegnung mit einem Holocaust-Überlebenden aus Mannheim.

[Volker Keller] bearbeitet Themen, an die viele sich nicht herantrauen. Es ist seinem Engagement zu verdanken, dass die jüdische Geschichte wieder zum Alltagsleben der Stadt gehört.
— Schoschana Maitek-Drzevitzky
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Kellers unstillbarer Forscherdrang führte ihn noch zu einem weiteren Judenhaus. Das Haus B7,3 wurde als jüdisches Altersheim genutzt und beherbergte eine Mikwe (ein rituelles jüdisches Bad) und eine Synagoge. Zwischen 1939 und 1942 lebten hier viele Ältere und Kranke, bevor sie nach Auschwitz in den Tod deportiert wurden. Keller beschrieb das heute noch stehende und bewohnte Gebäude in einem Artikel und war Initiator einer Gruppe, die sich für eine dem Haus und seiner Geschichte angemessene Gedenktafel einsetzte. In dem bewegenden Text, den er für diese Tafel verfasste, wird unter anderem eine ehemalige Bewohnerin zitiert, die Selbstmord beging, um sich der Deportation zu entziehen. 

Im November 2015 wurde die Gedenktafel von Keller und Manfred Froese, einem Diakon, der sich unermüdlich für Toleranz und Menschenrechte engagiert und seit mehr als zwei Jahrzehnten mit Keller zusammenarbeitet, im Beisein von 70 Gästen eingeweiht. „Volker Keller gehört zu den profundesten Experten für die Erforschung der Geschichte der jüdischen Gemeinde in dieser Region. Über die sorgfältige historische Arbeit hinaus zeichnet er sich insbesondere dadurch aus, dass er einen deutlichen Schwerpunkt auf die Pflege des Kontaktes zu Menschen jüdischen Glaubens legt“, sagt Froese.

Schoschana Maitek-Drzevitzky, Vorsitzende der Mannheimer jüdischen Gemeinde von 2011 bis 2016, pflichtet bei: „Volker Keller ist ein hoch geschätzter Freund der jüdischen Gemeinde in Mannheim. Er bearbeitet Themen, an die viele sich nicht herantrauen. Es ist seinem Engagement zu verdanken, dass die jüdische Geschichte wieder zum Alltagsleben der Stadt gehört“, sagt sie. 

Seine Bücher, Artikel, Führungen und Workshops sind ein nicht mehr wegzudenkender Fundus und Ausgangspunkt für zukünftige Generationen, insbesondere seine Publikationen zur 300-jährigen Geschichte der Klaus-Synagoge („Die Welt der Mannheimer Klaus: Lehrhaus und Synagoge in drei Jahrhunderten“) und über den jüdischen Friedhof („Bet Olam – Der Jüdische Friedhof in Mannheim“). Einer der Obermayer-Preisträger 2020, Dr. Norbert Giovannini, stieß im Zuge seiner Arbeit zur jüdischen Geschichte Heidelbergs auf Kellers Werk „Bilder vom jüdischen Leben in Mannheim“ und war beeindruckt. „Das Bildmaterial, das Volker Keller gesammelt und gesichert hat, ist außerordentlich wertvoll. Ich weiß, dass einem solche Schätze nur anvertraut werden, wenn die Forschenden mit den Menschen in tiefem und vertrauensvollem Kontakt stehen“, sagt er.

Kellers umfassende Forschungs- und Erinnerungsarbeit zur jüdischen Gemeinde in Mannheim erfolgte ausschließlich auf ehrenamtlicher Basis. Er hat regelmäßig Schüler*innen in seine Geschichtsarbeit eingebunden und interessierte Bürger*innen an Gedenkprojekten beteiligt.

„Ich hoffe, dass meine Schüler, Leser und die Gemeinde lernen, wie fragil unsere demokratischen Errungenschaften sind. Alles, was uns heute so selbstverständlich erscheint, Menschenrechte, Freiheit, Schutz der Minderheiten, Toleranz gegenüber Anderen und Ernstnehmen von Andersdenkenden, muss täglich neu erkämpft werden“, sagt er. 

Keller ist vorsichtig optimistisch hinsichtlich der Wirkung seines Engagements zur Erforschung und Bewahrung jüdischer Geschichte, Kultur und Beiträge in Mannheim bei den Bürger*innen der Stadt. „Ich möchte mich keinen übertriebenen Hoffnungen hingeben. Aber ich glaube, auch kleine Beiträge können auf Menschen einwirken, wenn es auch viel Zeit benötigt. Das Interesse vieler Leute ist vorhanden, aber man muss es wecken und motivieren. Gerade junge Menschen sind sehr ansprechbar für Themen, welche die Vergangenheit betreffen, aber ihre heutige Situation erklären“, sagt er.

Für junge Menschen, die sich fragen, wie man sich am besten engagieren und Vorurteile und Intoleranz bekämpfen kann, hat Keller folgenden Rat: „Ich würde erst einmal fragen, Vorurteile und Intoleranz gegenüber wem? Toleranz gegenüber Demokratiefeinden ist problematisch. Doch jegliche rassistische, weltanschauliche, sexistische oder religiöse Intoleranz muss bekämpft werden. Es gibt so viele Beispiele für funktionierende Pluralität in vergangenen und in heutigen Zeiten. Diese positiven Vorbilder zu betonen und an sie zu erinnern ist die Aufgabe einer demokratischen Erziehung.“

 
 

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