Obermayer Award

„Wir haben die wichtige Verbindung nicht gesehen – das hätte deine Nachbarin sein können.“

Marie Rolshoven lässt die Geschichten von Überlebenden in deren ehemaligen Wohnungen lebendig werden


Toby Axelrod

Der Unterricht über den Holocaust war früher eine Art Schocktherapie. So erinnert sich die Kulturwissenschaftlerin, Fotokünstlerin und Filmemacherin Marie Rolshoven an den Geschichtsunterricht in West-Berlin in den 1980er Jahren.

„Wir sahen ganz viele schreckliche Bilder“ von Nazi-Kriegsverbrechen, sagt sie. „Und wir haben die wichtige Verbindung nicht gesehen – das hätte deine Nachbarin sein können, das hätte das Mädchen sein können, das auch bei dir in der Schule war oder in deinem Turnverein. Sondern es war so ganz weit weg.“

„Das hat sich ja ganz toll geändert jetzt in der Pädagogik“, ergänzt Rolshoven. Und dabei hat sie eine Rolle gespielt.

Gemeinsam mit ihrer Mutter, der Politikwissenschaftlerin und Künstlerin Jani Pietsch, und dem Biologen Florian Voss – die beide mittlerweile gestorben sind – hat Rolshoven 2016 ein beeindruckendes Projekt initiiert, dessen Schwerpunkt die persönliche und lokale Geschichte ist. Dieses Projekt, Denk Mal am Ort, ist gewachsen und findet mittlerweile in Berlin, Hamburg, Frankfurt und München statt.

Am ersten Wochenende, das auf den Jahrestag der Kapitulation der jeweiligen Stadt am Ende des Zweiten Weltkriegs folgt, öffnen Menschen die Türen zu ihren Wohnungen, in denen Jüdinnen und Juden und andere von den Nazis Verfolgte wohnten, und veranstalten Lesungen, Vorträge, Führungen und Gespräche. Eine Auswahl der zahlreichen Veranstaltungen 2023:

  • Frankfurt: ein Tag der offenen Tür in der Kantstraße 6, wo die jüdische Familie Stern bis zu ihrer Flucht aus Nazideutschland lebte. Die Nazis quartierten Dutzende Jüdinnen und Juden zwangsweise in dem Haus ein.

  • München: ein Vortrag in der Baaderstraße 46. Besucher*innen konnten die ehemalige Wohnung von Josef Pfeifer, einem Zeugen Jehovas, besichtigen. Er wurde in das Konzentrationslager Dachau deportiert und starb dort. 

  • Hamburg: ein Tag der offenen Tür und ein Vortrag im Haus, in dem Ida Dehmel, Ehefrau und Muse des Dichters Richard Dehmel, lebte und arbeitete, bis sie sich 1942 das Leben nahm.

  • Berlin: ein Tag der offenen Tür in der Reichsstraße 104, wo der renommierte Kinderarzt Gustav Tugendreich und seine Frau Irene bis zur Emigration in die USA wohnten, und ein Gespräch mit ihrer Enkelin Alina Tugend.

Manchmal werden diese Veranstaltungen gefilmt, sagt Rolshoven. „Ich muss immer daran denken, dass wir die Überlebenden nicht lange mehr haben werden.“

Die Inspiration für Denk Mal am Ort kam von der Initiative Open Jewish Homes, die die Niederländerin Denise Citroen in Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Historischen Museum Amsterdam 2012 ins Leben rief. Jedes Jahr, am Jahrestag der Befreiung der Niederlande im Mai, wird die Öffentlichkeit in die Wohnzimmer, Küchen und sogar Dachböden der ehemaligen jüdischen Bewohner*innen und Mitglieder des niederländischen Widerstands eingeladen, wo sie manchmal Gäste mit einer Verbindung zur Geschichte treffen können.

„Seien Sie doch froh, dass Sie noch leben“


Denk Mal am Ort ist aus dem Umfeld entstanden, in dem Rolshoven aufgewachsen ist.

Marie Rolshoven ist 1972 in Brüssel geboren, wo ihre Eltern sich während des Studiums kennengelernt hatten. Die Familie zog nach West-Berlin, als sie zwei Jahre alt war. Heute lebt sie in Berlin und auf Madeira. 

Ihr Interesse an der Geschichte des Holocaust wurde bereits früh geweckt, weil ihre Mutter mit dem verstorbenen Berliner Juden Dimitri Stein eng befreundet war. Sein Doktorvater und der Vater von Pietsch, ein Kollege an der Universität, hatten ihm geholfen, aus Nazideutschland zu fliehen. Als Pietsch 1947 geboren wurde, wurde Stein ihr Pate. Die Verbindung der Familie zu Stein „war immer ein wichtiger Teil unseres Lebens“, sagt Rolshoven. 

Er hat gleich gesagt: ‚Ach, hier war das Bett von meinem Bruder und da war der Schreibtisch von meinem Vater.
— Marie Rolshoven

Sie erfuhr, dass Stein nach 1945 bei der Technischen Universität Berlin anfragte, ob er seine Doktorarbeit in Elektrotechnik verteidigen könne. Man antwortete: „Was wollen sie denn? Seien Sie doch froh, dass Sie noch leben. Hauen Sie doch einfach mal ab.“ Erst 2008 sorgte die Universität endlich dafür, dass er seine Dissertation verteidigen konnte und verlieh ihm den Titel.

„Mit seinen eigenen Kindern hat er aber auch nicht so viel [über sein Leben in Deutschland] gesprochen“, erinnert sie sich. Stein und seine Frau Sophie hatten drei Söhne, die immer wieder Rolshovens Mutter baten, die Lücken in der Geschichte der Familie zu füllen.

Das Schweigen war für viele Familien typisch, sowohl auf der Seite der Überlebenden als auch auf der der Täter*innen, sagt Rolshoven. „Meine Großmutter [hat] sich geweigert, mit meiner Mutter ein Interview zu machen“, in dem es um das ehemalige Zwangsarbeiter*innenlager in der Nähe ihres Wohnorts im Harz gehen sollte.

Ihre Mutter hat schließlich zwei Bücher über den Holocaust geschrieben, obwohl sie nie in der Lage war, die Leerstellen in ihrer eigenen Familiengeschichte zu füllen. Von ihrer Mutter inspiriert wollte auch Rolshoven immer mehr erfahren. Sie hatte jedoch nicht vor, dass das ihr Lebenswerk werden würde.

Ihr Traum war, Bühnenbildnerin zu werden und im Ausland zu arbeiten. Deshalb hat sie eine Ausbildung zur Möbeltischlerin gemacht und kurze Zeit in Berlin in dem Beruf gearbeitet. Ihre Arbeit wurde 1997 mit einem Preis ausgezeichnet. Dann zog sie nach Barcelona, wo sie als Bühnenbildnerin arbeitete und Marionetten baute. Als sie nach Berlin zurückkehrte, war sie beim Film als Location Scout und Szenenbild-Assistentin tätig. Dann studierte sie Kunstgeschichte und Theater- und Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin.

 Zu der Zeit war sie 31 und hatte eine Familie gegründet. Auf der Suche nach einem festen Arbeitsplatz bewarb sie sich 2011 bei der Ausstellung Wir waren Nachbarn, einem 2005 initiierten Gedenkprojekt. Thema der Ausstellung sind Jüdinnen und Juden aus Berlin-Schöneberg, die zwischen 1933 und 1945 verfolgt und ermordet wurden. Sie ist im Rathaus Schöneberg untergebracht und wird fortlaufend um neue Biografien und Details ergänzt.

Rolshoven hat durch ihre Arbeit viele Überlebende und deren Verwandte kennengelernt, u.a. die verstorbene Berlinerin Rahel Mann, die als Kind im Keller versteckt den Holocaust überlebte. „Sie war ... eine von den Personen, die mich so beeindruckten“, sagt Rolshoven. „Sie hatte was sehr Lebensfrohes und hat trotzdem sehr viel Energie reingesetzt, Kindern ihre Geschichte zu erzählen. Die Kinder waren auch immer so sehr beeindruckt. Und da habe ich gedacht, wir müssen mit ihr mal einen Film machen. Weil ich ja schon immer diese Verbindung zum Film habe und ich sehe auch, dass Filme immer eine große Wirkung haben.“

Die Filme sollten später realisiert werden. 2012 wechselte sie zur Gedenkstätte Stille Helden, wo sie bis heute arbeitet. Die Ausstellungen und Programme der Gedenkstätte nehmen die außergewöhnlichen Menschen in den Blick, die selbstlos, manchmal sogar unter Lebensgefahr, Jüdinnen und Juden in Deutschland und in von Nazideutschland besetzten europäischen Ländern halfen.

Durch ihre Arbeit erfuhr Rolshoven bei einer Konferenz in Budapest vom Projekt Open Jewish Homes in Amsterdam. Von der Idee, genau „da [zu] erinnern, wo die Menschen gelebt haben, die verfolgt wurden“, war sie ganz begeistert.

„Und dann kam die Frage: „das kannst du ja eigentlich auch in Berlin machen, oder?‘ Und ich habe gesagt: „ja, stimmt, kann ich auch machen.‘“

Als sie wieder in Berlin war, erzählte sie ihrer Mutter von dieser Begegnung, und es wurde ihnen klar, dass sie durch ihre Erfahrungen dafür gut vorbereitet waren. „Meine Mutter hat mir gesagt: ‚das ist toll, das machen wir.‘“ 

Das war 2016. Seitdem haben sie Dutzende Tage der offenen Tür veranstaltet. Während der Coronavirus-Pandemie wechselten sie in Online-Formate; seit 2022 finden die Veranstaltungen wieder in Präsenz statt.

„Es ehrt diejenigen, die ums Leben kamen“

Nachdem Jani Pietsch 2020 gestorben war, „führte Marie das Projekt in Janis Stil weiter und hat es sogar auf mehrere Städte in Deutschland ausgeweitet“, sagt Jack Weil. Weil, dessen Mutter von Berlin nach Holland geflohen war, lernte Pietsch und Rolshoven 2015 in Amsterdam kennen, als sie zum ersten Mal dort waren, um Open Jewish Homes selbst zu erleben.

Denk Mal am Ort war in Berlin von Anfang an ein Erfolg, sagt er. „Das Projekt ist mir sehr wichtig, denn es ehrt diejenigen, die ums Leben kamen, und diejenigen, die mit anschaulichen Geschichten, Fotos und anderen Dokumenten überlebten.“

Rolshoven hat mit Überlebenden und deren Verwandten mehrere Kurzfilme gedreht. In einem der ersten erzählte Rahel Mann wie Frieda Anna Vater, die Frau des Hausmeisters im Mietshaus in der Starnberger Straße in Berlin, wo die Familie wohnte, sie sechs Monate lang im Keller versteckte. Sie und ihr Ehemann brachten dem Mädchen Essen und Bücher und nahmen sie gelegentlich heimlich mit nach oben, um zu baden.

Andreas Köhler, der heute in dem Haus wohnt, führt das Gespräch mit Rahel Mann und erzählt, wie misstrauisch er war, als sie eines Tages in den 1990er Jahren bei ihm anklopfte und den dunklen Keller sehen wollte. Diese Begegnung hat das Leben von Köhler und seinen Nachbar*innen verändert. Sie brachten eine Gedenktafel am Gebäude an, die Frieda Anna Vater gewidmet war, und blieben bis zu ihrem Lebensende mit Mann in Kontakt.

„Eine Anne-Frank-Geschichte mit glücklichem Ausgang“ – so beschreibt er Manns Überlebengeschichte. „Seit 2016 hat Rahel Mann bis zu ihrem Tod 2022 Lesungen und Führungen in unserem Haus durchgeführt. Die Hausbewohner und Gäste konnten dadurch ein grundlegendes Verständnis für diesen Teil unserer Vergangenheit entwickeln“, sagt er. „Das Zusammenwachsen unserer und anderer Initiativen wäre ohne die besonnene, fachkundige und kreative Unterstützung von Marie Rolshoven nicht denkbar.“


Yoel Ludwig Katzenellenbogen

Marie Rolshoven und Jani Pietsch


2019 gründeten Rolshoven und ihre Mutter mit anderen zusammen KUBIN e.V. – der Name steht für Kultur Berlin International – als Dachorganisation für Denk Mal am Ort und andere Projekte im Rahmen „der demokratischen Erinnerungskultur und des kollektiven Gedächtnisses“.

Rolshoven führte mit dem 90-jährigen Yoel Ludwig Katzenellenbogen im selben Jahr zum ersten Mal ein Gespräch, und zwar im Wohnzimmer der ehemaligen Wohnung seiner Familie in Berlin. Er war aus Israel angereist, und sie fuhren gemeinsam zur Wohnung. „Wir waren auch ganz schön aufgeregt, weil wir dachten: wie wird das jetzt für ihn?“ sagt Rolshoven. „Und dann hat er zu mir gesagt: ‚ich glaub, da kommt gar keiner. Das interessiert ja gar keinen.‘ Und dann war es ganz voll.“ 

Als er die Wohnung betrat, „hat er gleich gesagt: ‚ach, hier war das Bett von meinem Bruder und da war der Schreibtisch von meinem Vater“, sagt sie. „Er war ja schon sehr bewegt und hat auch sehr mit den Tränen gekämpft.“ Der heutige Besitzer von dem Laden, der seiner Familie gehört hatte, kam auch und hat sich auch noch mit ihnen verabredet, um zum alten Geschäft gehen.

Katzenellenbogen starb ein paar Monate später. Seitdem ist seine Tochter Elsa jedes Jahr aus Israel angereist, um bei Denk Mal am Ort mitzuwirken. 

„Jedes Jahr bin ich von Maries wunderbarer ehrenamtlicher Arbeit erstaunt und bewegt. Sie engagiert sich so sensibel, mit Liebe und Fürsorge für das Projekt“, sagt sie. „Marie ist zu einem integralen Teil unseres Lebens geworden, das Leben meiner Familie und meiner Lieben. Durch ihre große Energie, ihre Güte und ihre wunderbare Arbeit in dem Projekt ist sie Teil meiner Familie geworden... Sie gibt mir Hoffnung auf eine bessere Welt und, was am allerwichtigsten ist, sie sorgt dafür, dass man das allerschlimmste nicht vergisst, sodass es nie wieder geschieht.“

— Obermayer Award 2024

 
 

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