Obermayer German Jewish History Award, Auszeichnung für herausragende Leistungen

Leipziger Synagogalchor

Ludwig Böhme und Reinhard Riedel

Leipzig, Sachsen

Der Leipziger Synagogalchor wurde 1962 von Oberkantor Werner Sander gegründet. Sein Ziel war es, die jüdische Musiktradition in Deutschland zu bewahren und neue Generationen Deutscher an ein reiches Erbe heranzuführen, das durch den Holocaust nahezu vernichtet worden war. Nach Sanders Tod 1972 übernahm der Tenor Helmut Klotz die Aufgabe des Kantors und künstlerischen Leiters. Seither hat der Chor zahlreiche historische Ereignisse begleitet, wie zum Beispiel das Gedenkkonzert für Yitzhak Rabin im Jahr 1996 in Berlin. Der Chor war zudem der erste deutsche Chor, der in der Synagoge der Gedenkstätte Yad Vashem in Israel gesungen hat.

Die Faszination des Leipziger Synagogalchors liegt zum Teil wohl auch darin begründet, dass er sich aus ehrenamtlichen Sängerinnen und Sängern aller Altersgruppen (das jüngste Mitglied ist 22, das älteste 81) und aus den verschiedensten Bereichen zusammensetzt: Studenten und Lehrer, Ärzte und Wissenschaftler sind ebenso vertreten wie Ingenieure und Medienprofis. Der Chor gibt jedes Jahr um die 15 Konzerte, meist in Deutschland, aber auch im Ausland. Im Jahr 2015 trat der Chor in England auf, im vergangenen Jahr in Polen, und 2017 geht es nach Israel. Laut der Nominierenden Daniela Kolbe (MdB) aus Leipzig hat der Chor seit dem Jahr 2000 an die 70.000 Zuhörer in Europa, den USA, Brasilien und anderen Ländern erreicht.

Zwei Menschen, die für zwei Generationen stehen, prägen den Chor heute in besonderer Weise: der 37-jährige künstlerische Leiter Ludwig Böhme und der 66-jährige Tenor Reinhard Riedel, das „dienstälteste“ Mitglied des Chors. „Vor vierzig Jahren machte fast niemand jüdische Musik“, erinnert sich Riedel. „Jetzt wird sie als Fach an Universitäten und Hochschulen gelehrt, die Partituren der Überlebenden [des Holocaust] werden publiziert und Chöre und Musiker präsentieren die Werke ebenso wie zahlreiche Folkloregruppen und Klezmer-Ensembles. Ich denke, die Zeiten für jüdische Musik sind heute viel besser als früher.“

Der in Leipzig geborene Riedel trat dem Chor 1969 als Sänger bei – nachdem Chorleiter Sander Riedels Eltern, mit denen er befreundet war, von seiner Suche nach einem guten Tenor berichtet hatte. Riedel studierte später Geige und spielte im MDR Sinfonieorchester, einem der führenden Orchester in Sachsen. Bis heute bringt er seine leidenschaftliche Stimme in den Synagogalchor ein, der mit seinem Gesang zahlreiche Holocaust-Überlebende bewegt hat und vielen Deutschen hilft, die jüdische Musikkultur wiederzuentdecken, vom Sakralgesang bis hin zum weltlichen jiddischen Liedgut.

„Ich war musikalisch fasziniert von der Leidenschaft des Chorleiters Werner Sander, von der Art und Weise, wie er die Musik erspürte und aus seiner eigenen Persönlichkeit heraus interpretierte“, erzählt Riedel. Während sich das Repertoire im Laufe seiner 47 Jahre beim Chor nur wenig verändert hat, ist der Wandel beim Publikum umso ausgeprägter: In den 1970er und -80er Jahren, so Riedel, „kamen viele Holocaust-Überlebende in die Konzerte, weil das ihre einzige Chance war, die Musik ihrer Jugend zu hören, und sie erkannten die Lieder. Das waren überwältigende Momente.“

Den denkwürdigsten Moment erlebte er, als der Chor die Genehmigung erhielt, in Yad Vashem in Israel aufzutreten. Nie zuvor hatte ein deutscher Chor an der Gedenkstätte gesungen, und das Thema wurde sogar in der israelischen Knesset diskutiert. Schließlich trat der Leipziger Synagogalchor tatsächlich dort auf – ein einzigartiger Wendepunkt in den Beziehungen der beiden Länder. „Das war ein sehr bewegender Moment“, so Riedel.

Sein Kollege und Chorleiter Ludwig Böhme bringt die Perspektive einer anderen Generation in den Chor. Der 1979 im Vogtland geborene Böhme wuchs in Leipzig auf. Im Alter von neun Jahren trat er dem Thomanerchor bei, mit dem er Werke von Bach und Mendelssohn sowie protestantische Kirchenmusik aufführte. Später studierte er Chordirigieren und arbeitete als Dirigent und Sänger. Bis zum Jahr 2012 spielte jüdische Musik dabei keine Rolle.

„Als man mich fragte, ob ich mir vorstellen könne, den Synagogalchor zu leiten, war mein erster Gedanke: ,Warum wollen sie gerade mich? Ich habe nichts zu tun mit jüdischer Musik.‘ Aber je mehr ich darüber nachdachte und je mehr ich mich über die jüdische Musik informierte, desto überwältigender wurde sie für mich, und ich verliebte mich in sie. Also sagte ich mir, ,Ich kann das‘,“ erklärt Böhme. Heute arbeitet er voller Leidenschaft mit dem ehrenamtlichen Chor, dem 34 deutsche, nicht-jüdische Sängerinnen und Sänger angehören, um „den Versuch zu unternehmen, die Musik, die unsere Vorfahren nahezu ausgelöscht hatten, wieder zum Leben zu erwecken.“

Böhme fühlt sich zum jüdischen Sakralgesang auf Hebräisch hingezogen, weil er „einen ganz besonderen Klang erzeugt.“ Für die Synagoge geschrieben, gehört dazu die einzigartige Mischung aus Orgel, Kantor und Chor. Böhme erklärt: „Beim Synagogalgesang gibt es einen Solopart für den Kantor, der immer ein virtuoser Sänger war, sodass diese Soloparts sehr dramatisch und emotional ausfallen. Der Chor begleitet den Solopart und übernimmt manchmal die Rolle des Engelschors, der dem Solisten antwortet oder den Gesang ,kommentiert‘, während die Orgel in der Rolle eines Orchesters die Musik untermalt.“

Für Böhme liegt in der Wiederherstellung der Verbindung zwischen den Deutschen und der musikalischen jüdischen Vergangenheit – auch mit der tragischen Musik, die nach dem Holocaust entstand – eine Chance zur Wiederentdeckung ihrer eigenen Identität. „Die Juden im Deutschland des 19. Jahrhunderts waren erfolgreich und akzeptiert.

Sie knüpften Verbindungen zu einer nicht-jüdischen Welt, und dieser kulturelle Austausch zwischen Juden und Nichtjuden fand auch in der Musik statt“, erklärt er. „An Gedenktagen, wenn wir uns an die schrecklichen Dinge erinnern, die unsere Vorfahren getan haben, gibt es zahlreiche Musikstücke zu diesem Thema, und es ist eine wichtige Aufgabe für uns, sozusagen als musikalische Erinnerung zu dienen. Andererseits ist es auch wichtig, nach vorne, in die Zukunft zu blicken, um auch den neuen Generationen ein Zusammenkommen zu ermöglichen.“

Riedel, der auch bei einem Konzert des Chors in Auschwitz sang, erinnert sich an die Gefühle und Tränen, die das Publikum erfüllten. Heute lebt kaum noch jemand aus dieser Generation der Überlebenden, und an ihre Stelle ist ein neues Publikum getreten. Er stimmt Böhme zu, dass der Blick nach vorne entscheidend ist: „Für mich ist es sehr wichtig, die traditionelle jüdische Musik, ihre Schätze und Perlen zu finden und die Vergangenheit zum Leben zu erwecken“, sagt Riedel, „aber es gilt auch neue Ideen für das 21. Jahrhundert zu entwickeln – neue Programme, neue Konzepte – und mit interessanten Arrangements das Publikum zu unterhalten. Diese Mischung aus Zukunft und Tradition ist sehr wichtig für den Chor.“

 
 

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