Obermayer Award

„Das ist der Unterschied zwischen Wissen und Begreifen.“

Dirk Erkelenz hilft Schüler*innen dabei, eine emotionale Verbindung zur Geschichte herzustellen

Toby Axelrod

Stell dir das Leben eines dieser jüdischen Mädchen vor wie ein ganz buntes Gemälde auf Glas. Ganz differenziert. … Und dieses Gemälde, dieses Glasbild hat man auf dem Boden zerschmettert, ist darauf rumgetrampelt, hat die Splitter in alle Richtungen getreten, unter Müll, unter Dreck verborgen.“

Jahrzehnte danach findet eine junge Schülerin eine Scherbe. Und damit beginnt ihre Suche nach dem ganzen Bild. Dies ist der erste Schritt, die Biografien ehemaliger jüdischer Schüler*innen der ältesten öffentlichen weiterführenden Mädchenschule in Köln, der 150 Jahre alten Königin-Luise-Schule, vor dem Vergessen zu bewahren.

So beschreibt Dirk Erkelenz, der dort seit 2003 Geschichts- und Lateinlehrer ist, den Prozess, über jüdische Schülerinnen der Schule, die dann den Nazis zum Opfer fielen, zu recherchieren und an sie zu erinnern. Dieser Prozess hat sowohl seine Schüler*innen, die einen Großteil der Arbeit leisten, tief berührt als auch die Familien der Nachkommen, mit denen sie in Kontakt getreten sind.

Die Namen Dutzender Schülerinnen wurden wiederentdeckt, ihre Geschichten wurden erzählt. Vor der Schule, die sie einst besuchten, wurden Stolpersteine zum Gedenken verlegt.

Die Schülerin Sarah Stauber erforschte die Biografie von Alice Tuteur und konnte schließlich deren Sohn Gunther Heyden kennenlernen. „Ihn zu treffen war eine wirklich emotionale Erfahrung“, sagt sie. „Von ihr und von Gunter werde ich meinen Kindern und hoffentlich auch meinen Enkeln erzählen, wenn ich eines Tages welche habe. Denn es bleibt meine Aufgabe, ihre Geschichte, ihr Schicksal, ihr Leben nicht vergessen zu lassen.“

Die Schule erinnert auf ihrer Website an Alice Tuteur, und ihre Biografie wird auch in einem Buch präsentiert, das im Sommer 2023 von Erkelenz und Thomas Kahl, einem Kollegen am Deutzer Gymnasium Schaurtestraße in Köln, herausgegeben wurde. „Jüdische Schülerinnen und Schüler an Kölner Gymnasien – Ihre Geschichte(n) zwischen Integration, Ausgrenzung und Verfolgung“ lautet der Titel des Buchs; Schüler*innen verfassten die Hälfte der Biografien. 

Während der Nazi-Zeit wurde es jüdischen Schüler*innen verboten, nicht-jüdische öffentliche und private Schulen zu besuchen. Da die Königin-Luise-Schule und auch ihr Archiv im Krieg zerstört wurden, war es schwierig, die Namen der jüdischen Schülerinnen ausfindig zu machen, geschweige denn, etwas über ihr Schicksal zu erfahren. Heute fügen die Schüler*innen Informationen zusammen, um die Biografien der jüdischen Schülerinnen bis zu ihrem Ausschluss nachzuzeichnen.

„Du rettest die Erinnerung an einen Menschen, und sei der erste Splitter nur so klein“, sagt er.

Die Anfänge

Die neuere deutsche Geschichte war schon immer Erkelenz‘ Steckenpferd. Wie viele Deutsche seiner Generation wollte er die Geschichte seiner eigenen Familie erfahren, besonders die seines Vaters, der als Wehrmachtsoldat während des Zweiten Weltkriegs in Afrika stationiert war und in amerikanische Gefangenschaft geriet.

Darüber wollte sein Vater allerdings nicht sprechen. „Das ist der am häufigsten geäußerte Satz von Zeitgenossen“, sagt Erkelenz. „‚Wir haben von nichts gewusst.‘ ‚Aber Papa, das kann doch nicht sein! Was soll das?‘“

Nachdem er vor 20 Jahren als Lehrer an die Königin-Luise-Schule kam, fing er an, sich mit der Geschichte der Schule zu beschäftigen. In einer Festschrift von 1971 zum 100. Geburtstag der Schule fand er nur einen einzigen Satz zu ihrer Geschichte im Dritten Reich: „‚Die Schule wurde im Dritten Reich zerstört.‘ Und da dachte ich mir: ist ja typisch! Da war noch viel zu tun. Ist ja auch heute noch viel zu tun, was die Aufarbeitung angeht“, sagt er.

[History] not in the clouds, not in Berlin, but here in our city, in our street, in our school.
— Dirk Erkelenz

Erkelenz fuhr 2011 zum ersten Mal mit einer Schüler*innengruppe zur KZ-Gedenkstätte Auschwitz nach Polen. „Das war für mich in mehrfacher Hinsicht ein Schlüsselerlebnis“, erinnert er sich. Ich kannte die Bücher, ich kannte die Fotos, ich kannte die Orte. Aber wenn man selbst da steht und diese riesigen Dimensionen dieses Lagers sieht … Ich versuchte mir vorzustellen, welche Szenerie hier geherrscht hat, als die Transporte ankamen.“

Eine meiner Schülerinnen hat es so schön ausgedrückt: „Das ist der Unterschied zwischen Wissen und Begreifen.”“

Erkelenz hatte sich alle Mühe gegeben, ihnen die Geschichte und auch seine eigenen Emotionen nahezubringen, besonders als er in einem Buchladen in Krakau das Tagebuch von Rutka Laskier, einem jungen polnischen Mädchen, fand. Und nun kamen seine Schülerinnen, kaum älter als Rutka, als sie in Auschwitz ermordet wurde, und fragten ihn unter Tränen: „wie ist das möglich?“

Ihm wurde klar, dass er einen anderen Ansatz brauchte, der über die gigantischen, anonymen Zahlen hinausging, Zahlen, „die niemand begreifen kann“, wie er sagt. Es brauchte eine persönliche Dimension.



Deswegen gab er ihnen auf, eine Familie oder ein gleichaltriges Kind ausfindig zu machen. „Das heißt nicht in den Wolken, nicht in Berlin, sondern bei uns, in unserer Stadt, in unserer Straße, an unserer Schule. Und da habe ich dann so angefangen, in diese Richtung zu arbeiten.“ Es war auch erforderlich, sich mit den Tätern zu beschäftigen, um „zu irgendeinem ansatzweisen Verständnis, wie so etwas möglich ist“, zu kommen.

Mittlerweile hat er mit insgesamt etwa 120 Schüler*innen fünf Reisen zur Gedenkstätte Auschwitz unternommen. Er war der erste Lehrer an seiner Schule, der solche Reisen durchführte. Er hat auch eingeführt, dass die Reise regelmäßiger Teil des Geschichte Leistungskurses ist, und zwei weitere Lehrer*innen fahren mit. Das Interesse an der Reise war so groß, dass sie jetzt für die gesamte Jahrgangsstufe nach dem Abitur angeboten wird.

Die Scherben finden

In Köln bestehen große Hindernisse für die Erforschung der lokalen Geschichte. Allem voran wurde die Schule samt Archiv im Krieg zerbombt. Und im Jahr 2009 stürzte das Historische Archiv der Stadt im Zuge des U-Bahn-Baus ein, was den Verlust unersetzbarer historischer Dokumente mit sich brachte. Da es praktisch keine Originalunterlagen mehr gibt, ist es schwierig, die Namen früherer Schülerinnen ausfindig zu machen, geschweige denn die Namen jüdischer Schülerinnen, sagt Erkelenz. Bislang ist es gelungen, 80 zu ermitteln und 30 Biografien zu schreiben.

Trotz dieser Hindernisse ist in den letzten 14 Jahren eine erstaunliche Menge Material mit Bezug zur Lokalgeschichte gefunden worden, und ein großer Teil davon steht jetzt online zur Verfügung. Unter der Leitung von Erkelenz suchen Schüler*innen an zahlreichen verstreuten Orten nach Spuren – vom Dokumentationszentrum in Köln, das nach seiner weitgehenden Zerstörung durch einen Brand 2021 wieder eingeweiht wurde, bis hin zum Visual History Archive der Shoah Foundation an der University of Southern California. Anhand von Informationen von Genealogie-Portalen und Dokumenten im Zusammenhang mit Anträgen für Wiedergutmachung nach dem Krieg haben die Schüler*innen Familienstammbäume erstellt.

Die Auswirkungen auf seine Schüler*innen wurden bald deutlich. „Wenn ein 17-jähriges Mädchen sagt, dass sie am Samstagabend lieber vorm Rechner sitzen geblieben ist als mit ihren Freunden in die Disco auf den Kölner Ring zu gehen, weil sie unbedingt noch dieses Problem lösen wollte“ – nämlich das Schicksal einer ehemaligen jüdischen Schülerin aufzudecken – „ein besseres Zeichen gibt es nicht“, sagt Erkelenz.

Diese Schülerin fand die Großnichte einer jüdischen Schülerin aus dem Jahr 1935, kontaktierte sie und erhielt von ihr zahlreiche Fotos. „Sie hat gezeigt, wozu Schüler in der Lage sind, wenn man sie an ein solches Thema setzt“, sagt Erkelenz.

Ihre Geschichten erzählen

Diese Arbeit hat viele Nachkommen ehemaliger Schülerinnen in der ganzen Welt erreicht. „Eine ganze Reihe von diesen Familien haben von uns etwas über ihre Familien erfahren, was sie vorher gar nicht wussten.“

Johnny Cahn, 77, wurde zum ersten Mal vor mehreren Jahren von Schüler*innen kontaktiert, als Carla König, die damals die 11. Klasse besuchte, über seine Mutter Edith Jonas mehr erfahren wollte. Sie hatte ihn in einem Stammbaum auf einer Genealogie-Plattform gefunden.

Leider starb seine Mutter, als er sehr jung war, sagt Cahn, der Professor für Wirtschaftswissenschaften ist und in Maryland/USA lebt. „Nach dem KZ ist sie nie wieder gesund geworden.“

Edith Jonas war die letzte jüdische Schülerin, die an der Schule ihren Abschluss machte, sagt er. Cahns Eltern waren beide aus Köln nach Amsterdam geflohen, wo sie dann heirateten. Unter der deutschen Besetzung von Holland wurden sie zunächst ins Durchgangslager Westerbork und dann nach Auschwitz deportiert. Beide überlebten.

Cahns Plan, nach Deutschland zu reisen, wurde von der Corona-Pandemie durchkreuzt, aber er hofft, die Reise bald nachholen zu können. Er möchte die Stolpersteine sehen, die die Schüler*innen vor der Schule dem Haus seiner Großeltern mit verlegten. „Sie schauten sich den gesamten Familienstammbaum an und nahmen es auf sich, all diese Steine zu verlegen“, sagt er.

In einem neuen Projekt geht es um Fotos, die von Nachkommen zur Verfügung gestellt wurden. Die Idee geht auf eine Ausstellung von Familienfotos in der Gedenkstätte Auschwitz zurück. Die Fotos wurden von Jüd*innen bei ihrer Ankunft im Lager beschlagnahmt. „Das war der Ort, wo auch meine Schüler am allererschüttertsten waren. Und dann haben wir gesagt: so eine Wand möchten wir in unserer Schule auch machen, weil wir diese Fotos bekommen haben. Wir können das also für unsere Schülerinnen und ihre Familien auch machen. Und das entwickelt sich jetzt“, sagt Erkelenz.

Der Kontakt zu den Nachkommen hat das Leben der Schüler*innen verändert. Sarah Stauber war 2018 in der 11. Klasse, als sie sich entschloss, mitzumachen. Ihre erste Aufgabe war, den Sohn einer ehemaligen Schülerin, Alice Tuteur, zu kontaktieren, die während des Ersten Weltkriegs die Schule besucht hatte.

„Es war sehr beeindruckend und emotional, zum ersten Mal mit Gunter [Heyden] zu sprechen und ihn kennenzulernen“, schrieb Stauber in einer E-Mail. Seine Offenheit hat sie überrascht.

„Meine Geschichte ist eine traurige“, schrieb Heyden im Empfehlungsschreiben für Erkelenz für einen Obermayer Award. Heydens Mutter „wurde versteckt und verraten. Aus Verzweiflung nahm sie sich das Leben.“

Als er Stauber und einen weiteren Schüler kennenlernte, die über seine Mutter forschten, sagt Heyden: „entdeckte ich in ihren Augen ein tief empfundenes Interesse dafür, wie ich die schlimmen Zeiten ‚durchgestanden‘ habe, da ich nach dem Klassifikationssystem der Nazis Halbjude war.“

Stauber erinnert sich: „Ich werde niemals vergessen, wie er uns anstrahlte und umarmte. Wie dankbar er uns war, obwohl wir es waren, die ihm für alles dankbar sein sollten und auch dankbar waren. Ich werde nie vergessen, wie offen er mit uns gesprochen hat, wie er mit uns über manche Geschichten lachte und über andere Erinnerungen weinte.“

„Indem wir ihn kennenlernten, wurde Alice Tuteur lebendig, mehr als nur Fakten auf dem Papier. Wir konnten sie als Frau erkennen, die das Leben genoss, die gerne und viel lachte, die ihre Kinder liebte und schützte und die eine unglaubliche innere Kraft hatte.“

Heyden sagt: „Ich bin erstaunt, dass es Lehrer wie Herrn Erkelenz gibt. Obwohl er selbst kein Jude ist, zeigt er so viel Fürsorge und Empathie für die Opfer des Nazi-Regimes. Herr Erkelenz, der ruhig und zurückhaltend ist, arbeitet mit Entschlossenheit daran, dass man diese Zeiten nicht vergisst.“

— Obermayer Award 2024

 
 

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