Obermayer Award

„Das, was damals … geschah, geschieht auch heute noch.“

Christof Pies und der Förderkreis Synagoge Laufersweiler 

Toby Axelrod 

Wie viele Menschen seiner Generation wuchs der 1948 in der Eifel nahe der Grenze zu Luxemburg und Belgien geborene Christof Pies bei Eltern auf, die ihre persönliche Geschichte während der NS-Zeit verdrängten. So sehr er sich auch bemühte, über die Kriegserlebnisse seiner Eltern konnte er nicht viel in Erfahrung bringen. Er selbst hat sich jedoch später aus diesem Schweigen gelöst und zahllosen jüdischen wie nichtjüdischen Menschen geholfen zu verstehen, was vor ihrer Haustür in dieser ländlichen Region in Rheinland-Pfalz geschehen war.

Mit einem Umzug nach Kastellaun im Hunsrück und der Aufnahme seiner Lehrertätigkeit im Jahr 1977 begann auch Piesʼ jahrzehntelanges Engagement für den Aufbau von Beziehungen zwischen den heutigen Einwohner*innen des Ortes und ehemaligen jüdischen Nachbarn, denen die Flucht vor dem NS-Regime gelungen war – und zwischen den jüngeren Generationen auf beiden Seiten.

Als Mitgründer des „Förderkreis Synagoge Laufersweiler e.V.“ im Jahr 1989 und in seiner Rolle als Lehrer hat Pies einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass die einzigartige Lokalgeschichte des Landjudentums nicht in Vergessenheit geriet. Laufersweiler liegt rund 30 Kilometer entfernt von Kastellaun und ist mit dem Ort durch mehrere weit verzweigte jüdische Familien verbunden.

Mehr als drei Jahrzehnte nach Gründung des Förderkreises mit dem damaligen Bürgermeister Fritz Ochs und vielen anderen ist die Wirkung auf kommunaler wie persönlicher Ebene vielfach spürbar. Der Verein hat einen großen Beitrag zur Bewahrung der lokalen jüdischen Geschichte geleistet, zahllose Vorträge, Ausstellungen und Konzerte organisiert. Das „Forst-Mayer Studien- und Begegnungszentrum für das Landjudentum“, benannt nach den Überlebenden Hans Simon Forst und Shimon (Rolf) Mayer, wurde 2014 eröffnet, mit einem großen pädagogischen Angebot für Schulen in der Region. Es sind auch immer wieder ehemalige jüdische Bürger*innen zurückgekehrt, um Erinnerungen zu teilen und neue Kontakte zu knüpfen. 

Darüber hinaus hat Pies deutsche Jugendliche mit Israel vertraut gemacht und Menschen aller Altersgruppen das Rüstzeug für die Bekämpfung von Antisemitismus und anderen Formen der Vorurteile vermittelt. Dieses Engagement hat viele Leben verändert. 

Die Arbeit war oft nicht leicht, auch wenn sich die Beharrlichkeit über die Jahre ausgezahlt hat. „Viele Tabus sind in Deutschland gefallen“, sagt Pies.

Lernen und Lehren

Christof Pies wurde kurz vor Weihnachten 1948 geboren, „in dem Jahr, in dem der Staat Israel gegründet und die D-Mark eingeführt wurde.“ Das ist seine Antwort auf die Frage von Schüler*innen, „ob er die Eiszeit oder den 2. Weltkrieg erlebt hat.“ Die Tatsache, dass sie diese zwei Dinge in Zusammenhang bringen, zeigt die Distanz der heutigen jungen Generation zur NS-Zeit. 

In Piesʼ Leben wirkte der Krieg allerdings nach. „Meine Eltern lebten in einem Gebiet, wo Kämpfe zwischen den Amerikanern und der deutschen Wehrmacht stattfanden.“ Ein damals zweijähriger Bruder wurde zutiefst traumatisiert von den Bombeneinschlägen in ihrem Haus und „konnte nicht mehr laufen und sprechen, als die Familie den Bunker verlassen durfte. Meine Eltern verloren alles, und mein Vater kehrte traumatisiert von der russischen Front und aus englischer Gefangenschaft zurück. Er hat nie über den Krieg oder über die Opfer gesprochen. Er sagte immer: ,Das war alles so schrecklich, ich kann euch nichts darüber erzählen.‘“

An seinem Gymnasium „hatten die meisten Lehrer in der Wehrmacht gedient und sprachen nie über das, was sie getan hatten. Sie brüsteten sich nur mit ihrem Kämpfen … und beschworen die Kameradschaft. Manche schlugen uns auch im Unterricht. Es war sehr traurig.“ 

Dass er sich überhaupt für die Geschichte der Juden in Deutschland, den Holocaust und den Krieg zu interessieren begann, ist womöglich einem damals neuen Lehrer für Geschichte und Sozialkunde namens Heinrich Studentkowski zu verdanken, dessen Vater ein hoher NS-Funktionär in der Region gewesen war. „Er erklärte vieles von dem, was passiert war“, im 2. Weltkrieg, erinnert sich Pies, „und war der erste Lehrer, der überhaupt das Thema Nationalsozialismus im Unterricht behandelte. ... Später wurden wir Freunde.“ Die Auseinandersetzung mit der Elterngeneration gab Studentkowski schließlich auch den Anstoß, als Sozialdemokrat in die Politik zu gehen.

Diese Erfahrungen prägten Pies in seiner Tätigkeit als junger Lehrer, die 1977 an der kleinen Schule in Kastellaun begann. Dort arbeitete er bis zum Jahr 2000, bevor er bis zu seiner Pensionierung 2012 ins nahegelegene Emmelshausen wechselte. Pies lebt bis heute mit seiner Frau in Kastellaun, zwischen Rhein und Mosel. Das Paar hat drei erwachsene Töchter. 

In dieser ländlichen Region begann Pies sich mit der jüdischen Lokalgeschichte zu befassen, die stark landwirtschaftlich geprägt war. Kastellaun hat heute rund 5.500 Einwohner*innen, während der NS-Zeit waren es maximal 1.800; davon waren 88 jüdisch. „Das war damals der höchste Anteil jüdischer Einwohner*innen in der Region“, erklärt Pies. „Fast alle hier ansässigen jüdischen Familien waren Viehhändler, Schuhmacher oder Händler für Malerbedarf, es waren auch einige Schlachter darunter. Die meisten Viehhändler verfügten über kleine Landparzellen und Gärten.“ 

Fast alle jüdischen Haushalte hatten in irgendeiner Weise mit dem Viehhandel, An- und Verkauf zu tun“, sagt Pies. „Selbst NS-Funktionäre beschwerten sich nach 1933 über den Mangel an ... Viehhandelsmöglichkeiten.“

Nach dem Krieg geriet die wichtige Rolle, die die jüdische Bevölkerung in der Region gespielt hatte, scheinbar in völlige Vergessenheit – bis 1979 der Holocaust-Überlebende Simon Forst, ein Experte für die Geschichte des Landjudentums, aus Israel in seinen Heimatort Laufersweiler kam und neues Interesse weckte. Etwa zur selben Zeit begann Pies gemeinsam mit weiteren Vereinsmitgliedern Kontakt zu Menschen in aller Welt aufzunehmen, deren Wurzeln in der Region lagen. 

Im Schuljahr 1981-82 organisierte Pies eine erste Projektwoche zur jüdischen Lokalgeschichte an seiner Schule, an der auch einige Bürger*innen teilnahmen. Aber es herrschte auch noch viel Unwissenheit und Ignoranz: Ein Lokalpolitiker meinte, dass „alle Juden ... reich waren und aus Deutschland fliehen konnten“, erinnert sich Pies. „Wir wussten, dass er Unrecht hatte.“ 

In der Laufersweiler Synagoge erinnert heute ein Kunstdenkmal mit allen 25 Namen an die Jüdinnen und Juden, die während der NS-Zeit deportiert und ermordet wurden. Und ihre Lebensgeschichten wurden für zukünftige Generationen dokumentiert und bewahrt. 

„Das ist genau wie 1933“

Piesʼ Hauptanliegen ist es davor zu warnen, was passieren kann, wenn ein auf Hass gegründetes Regime an die Macht kommt. 

„Die Person, die mich am stärksten beeinflusst hat, war Hans Simon Forst“, sagt Pies. Forst führte ihn in die Geschichte des Landjudentums ein. Ihr Austausch begann mit einem umfangreichen Briefwechsel, bevor es 1983 zur ersten persönlichen Begegnung kam. 

Bei ihrem ersten Besuch in Laufersweiler gingen Forst und seine Frau Lea, die aus der Region stammte, als Erstes zum jüdischen Friedhof. Pies erzählt: „Ich traf sie danach in einem Café. Sie saßen dort und weinten.“ Es stellte sich heraus, dass der Friedhof wenige Tage zuvor geschändet worden war. Der Anblick erinnerte das Paar an die Anfänge der Nazizeit. „Lea sagte: ,Das ist genau wie 1933. ‘“

Pies erinnert sich: „Es war sehr schwer, dagegen zu argumentieren, weil sie sich natürlich an ihre Vergangenheit erinnert fühlten. Beide hatten 60 bis 70 Verwandte durch den Holocaust verloren.“ Pies und seine Mitstreiter*innen kümmerten sich jedoch mit so viel Anteilnahme und Empathie um das Ehepaar, dass es immer wieder zurückkehrte, später mit Kindern und Enkelkindern. Im Laufe der Jahre gelang es der Gruppe um Pies, eine Verbindung zu um die 30 Familien ehemaliger jüdischer Bürger*innen herzustellen.

1989, in dem Jahr, als der Förderkreis Synagoge Laufersweiler gegründet wurde, lud Piesʼ Schule in Kastellaun als eine der ersten in Deutschland Überlebende und ihre Nachfahren zu einem einwöchigen Besuch ein. Die Schule organisierte mehr als 50 Projekte, von Geschichts-Workshops bis hin zum Matze-Backen. Die jüdischen Gäste sprachen auch mit den Schulkindern, die dadurch ganz neue Einblicke gewannen.

Die erste Gedenktafel für die ehemalige jüdische Gemeinde von Kastellaun war schon 1986 durch eine Schulklasse initiiert worden, „aber sie platzierten sie auf dem Friedhof weit außerhalb der Stadt, weil viele Stadtratsmitglieder sie nicht mitten im Ort haben wollten“, erzählt Pies. Es gab starken Widerstand gegen die Aufmerksamkeit für diese Geschichte, und Pies erlebte sogar schweren Vandalismus an seinem Haus: „Es ist viel passiert, aber wir haben nie aufgegeben.“ 

Über die Begegnungen mit Überlebenden hat der Verein ein Buch herausgegeben: „Gemeinsame Erinnerung“, mit dem Untertitel „Jüdische Überlebende des Nationalsozialismus begegnen Bürgern und Schülern ihres Heimatorts; Projektwoche der Gesamtschule Kastellaun“. Es folgten viele weitere Publikationen und Projekte sowie zahlreiche Israelreisen mit Jugendlichen, für die Pies Begegnungen mit Menschen aus Israel und Palästina organisierte. Auch die Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz und das nahegelegene polnische Krakau hat er mit Jugendgruppen besucht.

Eine ganz besondere Erinnerung ist mit einem Besuch im Konzentrationslager Buchenwald verbunden, als eine Gruppe Geflüchteter, die in der Region Laufersweiler untergebracht waren, zur Zelle von Paul Schneider kam, einem Pfarrer aus der Region Laufersweiler, der als Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime ermordet wurde. Carolin Manns, Bildungsreferentin des Forst-Mayer Studienzentrums, erinnert sich: „Wir standen vor der Zelle ..., und einer der Jugendlichen begann von seiner eigenen Flucht aus Syrien zu erzählen. Für ihn war dies eine Gelegenheit, seine eigene Geschichte zu reflektieren und zum ersten Mal darüber zu sprechen. Das war für uns alle wirklich ein besonderer Moment.“

„Er stand da ... und erzählte uns von eigener Gefangenschaft und Folterung“, ergänzt Pies. „Und dann weiß man, warum man das alles macht – dass das, was Paul Schneider und anderen geschah, auch heute noch geschieht.“ Das war für Pies ein Moment, den er niemals vergessen wird. 

Junge Menschen beteiligen sich

Helene Becker nahm an mehreren Israelreisen mit Pies teil, der für sie zu einem Mentor wurde. Die 18-Jährige aus Kastellaun hatte schon einen Bezug zu dem Land, weil ihr Vater als junger Mann in einem Kibbuz gelebt hatte und ihr älterer Bruder ebenfalls mit Pies nach Israel gereist war. Während der Reisen mit ihrer Familie gab es jedoch keine Begegnungen mit anderen Jugendlichen. „Durch Christof habe ich neue Freunde kennen gelernt und viele neue Erfahrungen gemacht“, erklärt Becker, die ein Medizinstudium über die Bundeswehr anstrebt. 

Ein Moment ist ihr besonders in Erinnerung geblieben von einem Besuch der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem nahe Jerusalem. Dort führte Pies die Gruppe zu den Mauern mit den eingravierten Namen der Orte, in denen Juden und Jüdinnen gelebt hatten. „Christof zeigte uns, dass auch unser Ort dort eingraviert war“, erzählt sie. Das zu sehen, war für sie umso bewegender, als sie zuvor schon mit Pies die Häuser ehemaliger jüdischer Nachbarn in Kastellaun besucht hatten.

Nach ihrer Rückkehr gründete Becker gemeinsam mit einigen Schulfreund*innen eine Arbeitsgruppe Geschichte. Pies unterstützte die Gruppe im vergangenen November bei der Reinigung von Stolpersteinen vor den Häusern ehemaliger jüdischer Bewohnerinnen. 

„Meine Freunde und ich finden, dass schon viele Ältere in der Erinnerungsarbeit tätig sind“, sagt Becker. „Irgendwann müssen Jüngere die Aufgabe übernehmen.“

Ayelet Mayer-Drach, die in Israel lebt, wo sich ihr Großvater, Shimon Mayer, mit seiner Familie nach der Flucht aus Laufersweiler im Jahr 1939 niederließ, gehört zu den Nachfahren, die eine besonders enge Beziehung zu Pies und seinen Schüler*innen haben. Sie erzählt: „Unsere Familie hat viele Dokumente und Informationen über unsere Wurzeln in Deutschland“ – unter anderem Postkarten, die der Urgroßvater im Ersten Weltkrieg von der Front schickte –, „aber wir können kein Deutsch. Herr Pies und sein Team haben uns dabei unterstützt, die Texte zu übersetzen und die historischen Zusammenhänge und Vorgänge zu verstehen.“

Sie fügt hinzu: „Es fiel uns manchmal sehr schwer, die Briefe zu lesen, weil einige es nicht geschafft haben, aus Deutschland zu fliehen, und ihr Leben verloren. Mein Großvater und seine Familie hatten Glück, dass ihnen im März 1939 die Flucht gelang. Eine Freundin aus dem Dorf, Gertrude Joseph, verpackte all ihre Sachen und schickt sie nach Palästina.“ Gertrude Joseph wurde im April 1942 nach Theresienstadt deportiert und hat nicht überlebt.

Mayer-Drach ist davon überzeugt: „Es sollten mehr Menschen erfahren, was für eine wichtige Arbeit Herr Pies und der Verein leisten.“ 

„Die Haltung hat sich geändert“, erklärt Pies. 1989, als der Verein ins Leben gerufen wurde, nannte Bürgermeister Ochs es „eine Art Wiedergutmachung für unseren kleinen Ort“, erinnert er sich. „Er wurde heftig angegriffen“, von Mitbürger*innen, die dagegen waren, so viel Geld für die Wiederherstellung der Synagoge auszugeben.

„Heute interessieren sich die Schülerinnen und Schüler viel mehr für diese Geschichte. Die jüngere Generation in der deutschen Gesellschaft weiß sehr gut, was der jüdischen Bevölkerung angetan wurde, und sie versucht, daraus Schlüsse für die Gegenwart zu ziehen“, sagt Pies.

Becker sieht der Zukunft eher mit gemischten Gefühlen entgegen. Auf der einen Seite ist sie entsetzt, wie viele Menschen rechtsextreme Bewegungen und Parteien unterstützen. 

„Aber wenn ich sehe, wie viele Menschen zu unserer Gedenkveranstaltung am 9. November kamen, lässt mich das doch hoffen. Weil ich glaube, dass die Mehrheit richtig denkt und es vielleicht möglich ist, Menschen dazu zu bringen, ihre Meinung zu ändern, wenn man tut, was Christof getan hat: Menschen zusammenbringen und ihnen den richtigen Weg zeigen.“

— Obermayer Award 2022

(Deutsche Übersetzung: Heike Kähler)

 
 

THIS WALL BRINGS PEOPLE TOGETHER

Students at this Berlin elementary school, built on the site of a synagogue, have been building a wall for the past two decades. It delivers a powerful message about community.

 

STUDENTS REACHING STUDENTS

When a handful of ninth graders from Berlin met Rolf Joseph in 2003, they were inspired by his harrowing tales of surviving the Holocaust. So inspired that they wrote a popular book about his life. Today the Joseph Group helps students educate each other on Jewish history.

 

“I SPEAK FOR THOSE WHO CANNOT SPEAK”

Margot Friedländer’s autobiography details her struggles as a Jew hiding in Berlin during World War II. Now 96, she speaks powerfully about the events that shaped her life and their relevance today.